LONDON. Die vorige Woche vorgestellten Pläne der britischen Regierung, nach dem Brexit ein Kontrollsystem über die Staatsgrenzen zu errichten, haben in Irland Besorgnis hervorgerufen, inwieweit hiervon die Grenze zur britischen Provinz Nordirland betroffen ist. Den geplanten neuen Gesetzen zufolge sollen auch in Irland lebende EU-Bürger nichtirischer Staatsangehörigkeit nach US-Vorbild ab 2025 sich online um eine Einreisegenehmigung nach Großbritannien und Nordirland bewerben müssen. Irische Bürger sind durch zwischenstaatliche Vereinbarungen hiervon ausgenommen. Die Bestimmungen sind noch nicht im Detail geklärt. Dennoch kündigte die irische Regierung aus Sorge um die Einführung einer harten inneririschen Grenze ihren Einspruch gegenüber den Plänen in London an, die vor allem auf die Verhinderung Einwanderung aus der EU abzielen. (kö)
NEWTOWNARDS. In der nordirischen Kleinstadt Newtownards, einer Hochburg der pro-britischen Protestanten, haben am vergangenen Montagmorgen zwei maskierte Gewalttäter einen Bus überfallen und in Brand gesetzt, nachdem sie den Fahrer unter vorgehaltener Waffe vertrieben hatten. Der Überfall steht in einem erklärten Zusammenhang zum umstrittenen Brexit-Protokoll, mit dem der Handel zwischen der EU und Großbritannien mittels einer innerbritischen Seegrenze zu Nordirland geregelt werden soll. Der Vorfall ereignete sich am gleichen Tag, für den im September die stärke protestantische Partei, die DUP, den Rückzug ihrer Minister aus der nord-irischen Allparteienregierung angekündigt hat, falls es zu keinen bedeutenden Änderungen in der Protokoll-Frage käme. Bislang sind ihre Minister nach wie vor im Amt, da der DUP-Vorsitzende Sir Jeffrey Donaldson Fortschritte sieht durch die Eröffnung von Verhandlungen über das Protokoll. (dk)
Politisches Chaos bei den nordirischen Protestanten
BELFAST. Die größte politische Partei der nordirischen Protestanten findet keinen Weg aus der inneren Krise. Nur fünf Wochen nachdem er seine durch ein Mißtrauensvotum gestürzte Vorgängerin Arlene Foster im Vorsitz der pro-britischen DUP (Democratic Unionist Party) beerbt hat, erklärte Edwin Poots am vergangenen Donnerstag seinen Rücktritt. Dem vorausgegangen war ein offener Aufruhr in seiner Partei über ein umstrittenes Abkommen zur gesetzlichen Gleichstellung der irischen Sprache mit dem Englischen. Demzufolge sollte im September das Westminster-Parlament in London über das Gesetz entscheiden, falls die nordirische Regionalversammlung bis dahin nicht zu einer Einigung kommt. Das Gesetz war vor allem eine Kernforderung der linksnationalistischen Sinn Fein. (dk)
DUBLIN. Irland steht möglicherweise vor einer erheblichen Einschränkung der Meinungsfreiheit in Wahlkämpfen. Bei einer Anhörung vor dem Parlamentskomitee zur Reform des Wahlgesetzes haben verschiedene Lobbygruppen eine Regelung gefordert, wonach Kandidaten, die sich einer nicht genauer definierten Haßsprache auf der Basis von Rassismus, Sexismus und der Diskriminierung von anderen Minderheiten bedienten, von einer dazu ermächtigten Wahlkampf-Kommission schwere Sanktionen auferlegt werden sollen. Die Irish Times zitierte Bernard Joyce, einen Aktivisten der Minderheit der nomadischen Travellers: „Diese Sanktionen müssen sehr streng sein, um Menschen zur Verantwortung zu ziehen, in einigen Fällen sogar um sie aus der Wahl zu ziehen, wenn die Rhetorik auf irgendeine besondere Gruppe gerichtet ist.“ (dk)
BELFAST. Arlene Foster hat nach mehr als fünf Jahren Amtszeit für Ende Mai ihren Rücktritt als Vorsitzende der pro-britischen DUP (Democratic Unionist Party) und für den Folgemonat als nordirische Regierungschefin angekündigt. Vorausgegangen war ein offener Brief zahlreicher hochrangiger Parteikollegen, in dem diese ihr das Vertrauen entzogen hatten. In der bedeutendsten Partei der nordirischen Protestanten wuchs die Unzufriedenheit über die Brexit-Strategie von Foster, der die Entstehung einer innerbritischen Seegrenze zur Last gelegt wurde. Ebenso zog sie den Unmut des sozialkonservativen religiösen Parteiflügels auf sich, als sie darauf verzichtete, in der nordirischen Versammlung an einer Abstimmung über das von der DUP abgelehnte Verbot der Konversionstherapie für Homosexuelle teilzunehmen. (dk)
Rückfall in die Vergangenheit Nordirland: Der Zorn der Protestanten entzündet sich an Grenzfragen durch den Brexit
Daniel Körtel
Es ist vermutlich ein letzter Dienst, den Prinz Philip seinem Land mit seinem Tod am vergangenen Freitag geleistet hat. In Respekt vor der königlichen Familie forderten die loyalistischen Paramilitärs in Nordirland dazu auf, die tagelangen Unruhen zu unterbrechen. Beobachter fühlten sich zurückversetzt in die dramatischen Hochzeiten der „Troubles“, des jahrzehntelangen Bürgerkriegs zwischen pro-irischen Katholiken und pro-britischen Protestanten.
Ausgehend von den loyalistischen Wohngebieten Derrys griffen die Unruhen auf die Provinzhauptstadt Belfast und der Grafschaft Antrim über. Jugendliche, die offenbar von im Hintergrund agierenden Erwachsenen angestachelt wurden, errichteten Barrikaden und warfen Steine, Feuerwerk und Benzinbomben auf Polizeikräfte, die Dutzende von Verletzten zu beklagen hatten. Erstmals seit sechs Jahren setzte die Polizei in Nordirland Wasserwerfer ein.
Mit diesen Ausschreitungen haben die Befürchtungen, die mit dem Brexit verbundene Lösung der Grenzfrage zwischen der Republik Irland und Nordirland würde zu einer Destabilisierung der Region führen, nunmehr eine reale Form angenommen.
In einem Protokoll wurde für Güter aus dem übrigen Großbritannien de facto eine Grenze in die Irische See verlegt, um die innerirische Grenze weiter offen zu halten. Die pro-britischen Unionisten und Loyalisten lehnen diese Regelung als Unterminierung der Position Nordirlands im Vereinigten Königreich ab und fordern vehement Nachverhandlungen.
Doch eigentlich rührt das umstrittene Protokoll tiefer an der Mentalität der nordirischen Protestanten, als es die Frage um Zolltarife vermag. Denn größer als ihre Angst vor der feindlichen Übernahme durch Dublin ist die vor dem Verrat aus London an ihren Interessen. Premier Boris Johnson hat mit dem Bruch seines Versprechens, daß es unter ihm keine innerbritischen Barrieren geben werde, dieser Urangst enormen Auftrieb verschafft.
Als weiterer Auslöser für den Rückfall in die Vergangenheit gilt die Beerdigung des populären IRA-Aktivisten Bobby Storey im vergangenen Sommer. Obwohl wegen der Corona-Pandemie bei solchen Anlässen die Zahl auf 30 Trauergäste beschränkt ist, nahmen mehr als 1.500 daran teil, darunter prominente Republikaner. Dieser spektakuläre Bruch der Corona-Regeln blieb für die Beteiligten bislang ohne Folgen, was wiederum einen fatalen Eindruck bei den Protestanten hinterließ.
BRÜSSEL. Die EU hat das einseitige Vorgehen Großbritanniens über die Verlängerung von Übergangsfristen zur Umsetzung des Brexit als Bruch internationalen Rechts kritisiert. Der Streit betrifft das Protokoll, mit dem die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland weiter offengehalten werden soll. Demzufolge werden Waren, die nach Nordirland eingeführt werden, weiterhin dem Zollrecht des EU-Binnenmarktes unterliegen. Dies gilt jedoch nach einer bestimmten Frist nicht mehr für Güter aus dem Rest des Vereinigten Königreichs, für die dann ein erhöhter bürokratischer Aufwand nötig wäre. Die damit verbundene Grenze in der Irischen See wird von den pro-britischen Parteien Nordirlands strikt abgelehnt, aus Sorge vor einer Untergrabung der nordirischen Position im internen britischen Markt. Unterdessen hat die Loyalist Communities Council, ein Dachverband protestantischer paramilitärischer Gruppen Nordirlands, aus Protest gegen das Protokoll seine Unterstützung für das Karfreitagsabkommen, mit dem 1998 der nordirische Bürgerkrieg beendet wurde, vorübergehend zurückgezogen. Gleichwohl wurde betont, daß der Widerstand gegen das Protokoll friedlich und demokratisch ablaufen solle. (dk)
Nach dem Referendum ist vor dem Referendum Schottland: Durch den Brexit gewinnen die Befürworter einer Unabhängigkeit von Großbritannien Aufwind Daniel Körtel
Eigentlich wurde das schottische Unabhängigkeitsreferendum im September 2014 selbst von seinen Betreibern als ein Projekt innerhalb einer Generation angesehen. Die Schotten entschieden damals zu 55 Prozent für einen Verbleib in der Union mit dem Vereinigten Königreich von Großbritannien. Doch es wurde nur zwei Jahre später nach dem erfolgreichen Brexit-Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union klar, daß die von der Schottischen Nationalpartei SNP geführte Regionalregierung bald einen erneuten Anlauf starten würde. Nach dem erfolgreichen Abschluß der Austrittsverhandlungen zwischen London und Brüssel kommen nun aus Edinburgh hierzu erste konkrete Signale.
Für die schottischen Regionalwahlen im kommenden Mai hat Schottlands Regierungschefin und SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon ein zweites Referendum ins Zentrum ihrer Wahlkampagne gerückt. Ihr Staatssekretär Mike Russell hält gar ein Referendum noch vor Weihnachten für möglich, innerhalb von sechs Monaten nach seiner gesetzlichen Implementierung.
Doch selbst bei einem Wahlsieg dürfte es der SNP schwerfallen, ihr Versprechen auch umzusetzen. Die Gesetzeslage weist die Verantwortung für ein Referendum eindeutig der britischen Regierung in London zu. Ein Referendum ohne die Zustimmung aus London wäre illegal, warnte der britische Minister für Schottland, Alister Jack.
Ein solches hätte – vergleichbar wie im Falle Kataloniens – auch den Nachteil, daß es vom Ausland nicht anerkannt werden würde. Seine Ablehnung eines weiteren Referendums hat der konservative britische Premier Boris Johnson wiederholt bekräftigt. Sollte er seine Weigerung aufrechterhalten, sieht die Strategie der SNP vor, den Weg über die Gerichte einzuschlagen.
Doch ungeachtet des Ziels einer schottischen Unabhängigkeit ist nach wie vor offen, wie ihre Befürworter diese ausgestalten wollen. Bislang sind wesentliche Fragen wie die Währung, die Außenvertretung und die Rolle der Königin in einem unabhängigen Schottland ungeklärt. Vor allem die Währungsfrage gab bei dem Referendum von 2014 mit den Ausschlag, da London damals kategorisch ausschloß, daß das britische Pfund weiterhin die Währung eines unabhängigen Schottlands sein könne.
Die letzten Meinungsumfragen sehen kontinuierlich eine Mehrheit zugunsten einer Unabhängigkeit Schottlands, zuletzt mit 49 zu 45 Prozent. Ungeachtet dessen erklärte Johnson vergangene Woche bei einem offiziellen Schottland-Besuch, den er im Rahmen der Corona-Bekämpfung unternahm, daß die Schotten ein weiteres Referendum nicht als ihre Priorität betrachten. Statt dessen sah er in der gemeinsamen Herausforderung durch die Pandemie sogar eine Stärkung der Union.
Doch nicht allein in Schottland sind durch den Brexit erste Auflösungserscheinungen der britischen Union sichtbar. Auch in der britischen Provinz Nordirland ist hierüber im Hinblick auf eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland Bewegung geraten. In einem Interview mit der Irish Times erklärte Sturgeon jüngst, daß sie mit ihren Freunden in Irland manchmal darüber witzele, was zuerst kommen werde, ein unabhängiges Schottland oder ein vereinigtes Irland: „Wer weiß? Möglicherweise wird nichts davon passieren. Aber ich glaube fest daran, daß ein unabhängiges Schottland kommen wird. Vielleicht werden wir in nicht allzu langer Zeit beides sehen.“
Gegen die Zensur durchgesetzt Irlands Homer: Vor achtzig Jahren starb der Schriftsteller James Joyce Daniel Körtel
Es war ein bescheidenes Ende für einen großen Geist: Als vor achtzig Jahren, am 15. Januar 1941, der irische Schriftsteller James Joyce auf einem Züricher Friedhof beerdigt wurde, fand sich nur eine kleine Trauergemeinde ein. Der Schweizer Tenor Max Meili sang „Addio terra, addio cielo“ aus Monteverdis Oper „L’Orfeo“, aber kein offizieller irischer Vertreter nahm an dem Begräbnis teil.
Joyce war zwei Tage zuvor nach einem operativen Eingriff verstorben, dem er sich in der Schweiz während seiner Flucht aus Frankreich vor dem Vormarsch der deutschen Armee unterziehen mußte. Mit ihm ging einer der bedeutendsten Schriftsteller, die Irland jemals hervorgebracht hatte.
Die Jugendjahre des 1882 in einem Vorort von Dublin geborenen Joyce waren geprägt vom sozialen Abstieg seiner Familie, die sie aufgrund väterlicher Fehlleistungen aus großbürgerlichen Verhältnissen in die Elendsviertel der Stadt führte. Die Erfahrungen als Jesuitenschüler setzten ihn in feindlichen Gegensatz zur katholischen Kirche, deren zeremoniellem Gepräge er dennoch weiter anhing. Schon früh entwickelte er Extravaganzen eines Charakters, der entweder genial oder größenwahnsinnig sein mußte.
Chronisch pleite, dem Alkohol hingegeben
Der erste bedeutende biographische Kippunkt dürfte 1904 die Begegnung mit dem Zimmermädchen Nora Barnacle gewesen sein. Entfremdet von der katholischen Bigotterie und dem Provinzialismus seiner Heimat zog Joyce mit ihr kurz darauf in das selbstgewählte Exil, das ihn zunächst nach Triest führte, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten sowie als Lehrer durchschlug. Die leidenschaftlich-obsessive Beziehung zu Nora, die beide in tiefe Abhängigkeit zueinander trieb, sollte mit seinem Werk in die Literaturgeschichte eingehen.
Chronisch pleite, dem Alkohol hingegeben und von Krankheiten geplagt – vor allem einem schweren Augenleiden –, konnte er seiner Verantwortung als Familienvater nur unzureichend gerecht werden. Doch erregte er mit dem skandalträchtigen Erzählband „Dubliner“ (1914), einer Sammlung von fünfzehn Kurzgeschichten, und dem autobiographischen Roman „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ (1916) erstes Aufsehen. Er fand hierdurch neben der Freundschaft zu Ezra Pound auch die finanzielle Förderung durch vermögende Frauen. Doch auch deren Mittel sollten ihm, der mit Geld nicht umzugehen wußte, nie reichen.
Die Literaturszene reagierte gespalten
Nach vielen Schwierigkeiten veröffentlichte er 1922 in Paris mit „Ulysses“ (dt: „Odysseus“) sein bedeutendstes Werk. Es ist ein komplexes Opus magnum, das angelehnt an Homers Sage der Odyssee den Protagonisten Leopold Bloom einen ganzen Tag – den 16. Juni 1904 – durch Dublin begleitet. Das Datum ist nicht zufällig gewählt; es ist der Tag, an dem Joyce Nora kennenlernte. Der Jahrestag ist heute als Bloomsday fester Bestandteil irischer Folklore, an dem Joyce-Fans in edwardianischer Kleidung in Dublin die „Ulysses“ nachvollziehen.
„Ulysses“ spaltete die Literaturszene wie kaum ein anderes Buch. Mit seinen expliziten Beschreibungen selbst gewöhnlichster körperlicher Vorgänge verstieß es gegen jedes zeitgenössische Tabu; es war „ein Amoklauf zerebraler Sexualität und körperlicher Inbrunst“, wie die Schriftstellerin Edna O’Brien in ihrer James-Joyce-Biographie schreibt. Doch die darin angewandte Erzähltechnik des Inneren Monologs, in dem alles oberhalb der Bewußtseinsschwelle des Protagonisten vermerkt wurde („stream of consciousness“), war für die moderne Literatur ein revolutionärer Schritt.
Dennoch mußte sich das Buch wegen seiner obszönen Passagen vielfach erst gegen die Zensur durchsetzen. Der vielfach als „unlesbar“ bewertete Nachfolger „Finnegans Wake“ wurde weitaus ungnädiger von der Kritik aufgenommen.
In den nachfolgenden Jahren verschlechterte sich Joyce’ Gesundheitszustand erheblich. Zusätzlich überschattete die familiäre Tragödie um seine Tochter Lucia, die der geistigen Umnachtung verfiel, sein Gemüt. Seine Heimat Irland hatte er zuletzt im Sommer 1912 bei einem Kurzbesuch in Dublin gesehen. Er, der sich von ihr verkannt fühlte, nannte sie verächtlich eine „alte Sau“. Und dennoch drehte sich in seinem Werk alles nur um sie. Auf die Frage, wann er wieder nach Irland zurückkehren wolle, sagte er einmal aufschlußreich: „Ich habe es nie verlassen.“
Irlands nachhaltiges Trauma Vor 175 Jahren verursachte die Kartoffel-Braunfäule auf der Grünen Insel eine Hungersnot / Britische Herrschaft verschärfte das Massensterben Daniel Körtel
Ein einsames steinernes Kreuz steht neben der Landstraße, die durch das Doolough Valley führt, eine baumlose Talebene in der westirischen Grafschaf Mayo, wo selbst im Sommer ein scharfer, kalter Wind bläst. Es erinnert an eine Tragödie, die sich Ende März 1849 hier zugetragen hatte, als mehrere Hundert verhungernder Iren in der nahe gelegenen Delphi Lodge bei den Vertretern britischer Behörden für die Armenfürsorge um Hilfe ersuchten. Nach einer gewissen Wartezeit – die Beamten wollten sich nicht beim Essen stören lassen – wurde den verzweifelten Menschen erklärt, daß sie keinen Anspruch auf Hungerhilfen hätten. Derart abgewiesen, trat die Menge den Heimweg an, den mindestens sieben von ihnen in ihrem stark geschwächten Zustand nicht mehr schafften. Ihre Leichen wurden später im Doolough Valley gefunden. Weitere Opfer wurden im See des Tals vermutet. Der Vorfall im Doolough Valley ist eingebettet in ein größeres Drama, das als die größte humanitäre Katastrophe im Europa des 19. Jahrhunderts in die Geschichte einging, der irischen Hungersnot von 1845 bis 1849, besser bekannt als der Große Hunger.
Kartoffelfäule zerstörte die Hauptnahrungsgrundlage
Am Vorabend der Hungersnot befand sich Irland im festen Griff Großbritanniens. Nachdem es 1800 in die Union mit dem Vereinigten Königreich gezwungen wurde, verfügte das Land über kein eigenes Parlament mehr; seine Hauptstadt war London, wo über alle irischen Belange entschieden wurde. Dublin war lediglich der Sitz des Vizekönigs, der die so getroffenen Entscheidungen exekutierte. Immerhin war es 1829 dem irischen Nationalhelden Daniel O’Connell mit seiner zähen Kampagne gelungen, auch Katholiken den Weg in das britische Parlament zu ebnen. Gleichwohl wurde diese katholische Emanzipation durch eine drastische Heraufsetzung des irischen Zensus konterkariert, der nur wohlhabenden Bürgern das Wahlrecht gestattete. Am diskriminierenden Status der Iren als Bürger zweiter Klasse unter britischer Besatzung änderte sich somit wenig. Als erste Kolonie des Empires hatte Irland keinen höheren Stellenwert als den des englischen Hinterhofs.
Ökonomisch war das Land extrem unterentwickelt. Zwei Drittel der irischen Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft, zumeist als Pachtbauern kleinteiliger Parzellen unter britischen Oberherren, die in den vergangenen Expansionskriegen das Land an sich gerissen hatten. Von einem fürsorglichen, paternalistischen Verhältnis zum gegenseitigen Nutzen, wie es zwischen den Landlords und ihren Pächtern traditionell im englischen Mutterland bestand, konnte in Irland keine Rede sein. Vorherrschendes Interesse der oft in England residierenden Grundherren war die Gewinnmaximierung zur Finanzierung ihres extravaganten Lebensstils.
Hauptanbauprodukt war die aus Südamerika eingeführte Kartoffelpflanze, die im feuchten und warmen Klima der irischen Insel selbst auf deren kargen Böden optimal gedeiht. Die Folge war eine Bevölkerungsexplosion, die die Zahl der Iren Mitte des 19. Jahrhunderts auf über acht Millionen Einwohner trieb und die mit den vorhandenen Ressourcen kaum ausreichend versorgt werden konnten. Im Frühjahr 1845 legte nach Ermittlungen vor Ort eine Regierungskommission ihren schonungslosen Bericht über die sozialen Mißstände und ökonomischen Defizite Irlands vor und gab die dringende Empfehlung einer Landreform ab. Folgen hatte der Bericht keine. Es war ein Desaster mit Ansage.
Nur wenige Monate später, Ende August, Anfang September 1845 – vor genau 175 Jahren – wurden in und um Dublin die ersten Anzeichen der Braunfäule beobachtet. Einmal befallen verwandelte sich ein Kartoffelfeld innerhalb von nur zwei Wochen in eine Fläche aus schwarzem, stinkendem Brei. Ursächlich hierfür war der Sporenpilz Phytopthora infestans, der mit seinem Netzwerk mikroskopisch kleiner Fäden die Pflanzengewebe umschlang und so abtötete. Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Natur der Braunfäule drangen nicht durch, stattdessen bestärkten die apokalyptischen Szenen vernichteter Ernten und krepierender Elendsgestalten aus „lebenden Skeletten“ die Vorstellung eines Gottesgerichts.
Anfangs versuchte der konservative Premier Robert Peel der Not noch mit dem staatlichen Ankauf von nordamerikanischem Mais entgegenzuwirken. Auch setzte er Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Gang, von freilich zweifelhaftem Sinn. Überall entstanden die bis heute zu besichtigenden Straßen ins Nichts, sogenannte Hunger Roads, um der vorherrschenden Ideologie Genüge zu tun, wonach Hilfe nur für Gegenleistungen zu erwarten war. Als sich im darauffolgenden Jahr die Ernteausfälle verschlimmerten, setzte Peel die Abschaffung der die englische Gentry begünstigenden, protektionistischen Korngesetze durch, um die Versorgung durch günstige Getreideimporte zu ermöglichen.
Den armen Iren, die durch ihre Subsistenzwirtschaft ohnehin kaum über Geld verfügten, half das wenig. Peel wiederum mußte schließlich John Russell von den liberalen Whigs weichen. Russells wirtschaftsliberaler Standpunkt des Laisser-faire, wonach der Staat von jeglicher Intervention in das Marktgeschehen absehen sollte und dieses im Prinzip der Selbstregulation ausschließlich der Eigeninitiative privater Akteure überlassen sollte, verschärfte noch einmal die irische Not.
Lebensmittel wurden weiter nach England exportiert
Inzwischen bereiteten sich Folgekrankheiten wie Typhus und Cholera aus, auch durch die völlig überfüllten Arbeitshäuser, in denen sich die Hungerhilfe erarbeitet werden mußte. Dennoch beendete Russell die Politik staatlicher Lebensmittelzuwendungen, um in totaler Verkennung der Verhältnisse die Iren zur Eigeninitiative zu zwingen, was für viele notleidende Pächter einem Todesurteil gleichkam.
Die Grundherren wiederum nutzten die Gunst der Stunde und setzten ab 1847 mit der Vertreibung ihrer Pächter eine Bereinigung ihrer Ländereien in Gang, um Platz zu schaffen für eine lukrativere Nutzung wie die Schafzucht. Unterstützt von Polizei und Militär wurden die schäbigen Lehmhütten zerstört und ihre Bewohner von den einstmals von ihnen bewirtschafteten Ländereien verwiesen. Es spielte dabei keine Rolle, ob die schutzlosen Pächter tatsächlich in Zahlungsverzug waren; das Gesetz war immer auf seiten der Grundherren.
Als sich die Lage zuspitzte und gar Hungerrevolten ausbrachen, mußte am Ende die britische Regierung von ihren scheinbar hehren Prinzipien abweichen. Endlich wurden wieder Nahrungsmittellieferungen zugelassen und staatliche Suppenküchen eröffnet, die die Bedürftigen kostenlos versorgten.
Dennoch wurden über den Zeitraum der gesamten Hungersnot Lebensmittel aus Irland nach England exportiert. Auch wenn in Abkehr von der nationalistischen Perspektive heutige Historiker darauf verweisen, daß diese Ausfuhren nur einen Bruchteil der Ernteausfälle ausmachten und so irische Handelsstrukturen stabilisiert wurden, kann der psychologische Effekt auf die hungernden Iren keineswegs unterschätzt werden.
Wer es sich leisten konnte, wählte die Auswanderung nach England und Übersee als Alternative zur Armut oder gar dem Hungertod. Es war der Beginn der irischen Diaspora, jenes globale Netzwerk irischer Abkömmlinge, das in nachfolgenden Notzeiten immer als Ventil diente. Doch nicht wenige Passagiere waren zu schwach, um die strapaziöse Überfahrt zu überleben, und so bekamen die Segler die schaurige Bezeichnung „Coffin Ships“ (Sarg-Schiffe).
Es ist nicht allein dem britischen Regierungsversagen und dem Scheitern theoretischer Ökonomie-Konzepte zuzuschreiben, daß sich die irischen Mißernten zu einer derartigen Katastrophe auswachsen konnten. Die tiefsitzenden Ressentiments des politischen Establishments Großbritanniens gegenüber ihren irischen Nachbarn können hierbei keinesfalls außer acht gelassen werden. Sie speisten sich aus der protestantischen Überheblichkeit gegenüber dem Katholizismus, der viktorianischen Vorstellung, wonach Armut die Schuld des Einzelnen sei und nicht etwa – wie im Falle der Iren – eine Folge der von den Briten beschnittenen Infrastruktur und schließlich dem unerschütterlichen Glauben an die göttliche Vorsehung, die die entsetzliche Hungersnot insgeheim zu einem „Segen“ mache, indem sie ein lästiges Problem löse mit einer überschüssigen und ungeliebten Bevölkerung, ineffizient wirtschaftenden Grundherren und mit den besonderem Nebeneffekt, die irische Opposition zum Schweigen zu bringen.
Auch wenn heutige Historiker den Vorwurf des Genozids irischer Nationalisten, den die Briten in der Hungerkrise an den Iren verübt haben sollen, für übertrieben halten, so steht eines außer Frage: „Hätte die britische Regierung ähnlich gehandelt, wenn in Kent oder Yorkshire eine Hungersnot ausgebrochen wäre? Wahrscheinlich nicht“ (Terry Eagleton).
Die Bilanz der irischen Hungerkatastrophe war beträchtlich: Eine Million Hungertote und doppelt so viele Auswanderer, die Einwohnerzahl gesunken auf rund 6,5 Millionen. Weitere fünf Millionen sollten in den kommenden Jahrzehnten das Land verlassen. Die Zurückgebliebenen konnten nun auf größeren Einheiten effizienter und vielfältiger wirtschaften. Und doch führten die in der Krise mit den Briten gemachten Erfahrungen zu einer zunehmenden Radikalisierung der Iren und beförderten die Erkenntnis, daß nur ein eigenständiges Irland vor solchen Katastrophen gefeit wäre. Nur wenige Jahrzehnte später kam die Autonomie fordernde Home Rule-Bewegung auf. Die irische Frage blieb als drängendes Problem auf der Tagesordnung britischer Innenpolitik. Es sollte noch bis 1922 dauern, bis Irland nach einem blutigen Unabhängigkeitskrieg seine Eigenstaatlichkeit erreichte.
Das offizielle Gedenken an den Großen Hunger wird in Irland eher bedeckt gehalten. Irische Geschichtspolitik kann nie ohne die Rückwirkungen auf das komplexe Dreiecksverhältnis zwischen Irland, Großbritannien und seiner Provinz Nordirland betrieben werden. In diesem Kontext muß auch das offizielle Eingeständnis des britischen Versagens in der irischen Hungerkrise durch den damaligen Premier Tony Blair aus dem Jahr 1997 verstanden werden, eine Geste unter vielen, mit denen Blair den nord-irischen Friedensprozeß zwischen pro-irischen Katholiken und pro-britischen Protestanten unterstützte. Dennoch ist das Verhältnis der Briten zur irischen Geschichte von „schockierender Ignoranz“ geprägt, wie der frühere britische Minister Michael Portillo erst kürzlich beklagte.
Verlassene Ruinen erinnern bis heute an die Katastrophe
In Irland wiederum wirkt das Trauma des Großen Hungers bis heute nach, der selbst in der Landschaft seine Spuren hinterlassen hat. Vor allem im dünn besiedelten Westen der Grünen Insel finden sich bis heute die Ruinen verlassener Behausungen, wie sie Heinrich Böll in seinem „Irischen Tagebuch“ aus Achill Island beschrieben hat. Und zuweilen treten nach Stürmen aus den Sandstränden die Knochen der nicht tief vergrabenen Hungertoten wieder ans Tageslicht.
An die zeitlose Lehre aus dem Drama erinnerte der in Irland populäre Publizist Tim Pat Coogan auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2012, als das Land seine wirtschaftspolitische Souveränität der EU-Troika aus Brüssel unterordnen mußte, „was passieren kann, wenn ein Land keine eigene Regierung hat und darauf vertrauen muß, daß für seine Nahrung ein paar Krümel vom Tisch des reicheren Nachbarn abfallen.“