© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/24 / 21. Juni 2024
Das Vordertor schließen, die Hintertür öffnen
Großbritannien: Das „Tor nach England“ ist zur Einfallstür der illegalen Immigration geworden
Daniel Körtel
Oje. Es regnet mal wieder Hunde und Katzen. Auch an diesem Tag im Mai ist auf dem Kreidefelsen über der Hafenstadt Dover im Südosten Englands diese trübe Wetterlage angesagt. Doch die Regenfälle an diesem Tag sind immerhin so ergiebig, daß man sich über den Hinweis im Badezimmer der Unterkunft, man möge mit dem Wasserverbrauch sparsam sein – denn die Grafschaft Kent, zu der Dover gehört, sei der trockenste Landesteil Englands –, nur wundern mag.
Der Kreidefelsen zählt zu den Touristenattraktionen Englands. Zum Tag des vollzogenen Brexits, des Austritts Großbritanniens aus der EU, wurde er im Januar 2021 zur idealen Leinwand für einen letzten darauf projizierten mehrsprachigen Abschiedsgruß der Briten an die EU-Europäer.
Premier Rishi Sunak verspricht, das Einfallstor zu schließen
Nirgendwo ist die Distanz zwischen Britannien und dem europäischen Kontinent kürzer als in Dover. Bis zum gegenüberliegenden Calais sind es nur rund 50 Kilometer. An besonders guten Tagen ist die französische Küste durchaus sichtbar. Doch dieser Regentag läßt diese ideale Sicht nicht zu. Unterhalb des Kreidefelsens ist der Fährhafen, von dem die Lautsprecherdurchsagen mit den Anweisungen für die LKWs von und zu den Fähren bis nach oben dringen.
Die Wolkendecke hängt so tief, daß der Bergfried der in normannischer Zeit errichteten Burg verschwindet. Die militärischen Befestigungen aus historischer Zeit dokumentieren den strategischen Wert Dovers. Bereits die Römer errichteten hier eine Marinebasis. In den Burgberg selbst trieben britische Pioniere ein Tunnelsystem, das im Zweiten Weltkrieg einen der bedeutendsten Knotenpunkte im militärischen System Großbritanniens darstellte. Hier war das Hauptquartier, von dem aus die legendäre „Operation Dynamo“, die erfolgreiche Rückholung des verbliebenen britischen Expeditionskorps und der Reste der französischen Armee aus dem von der Wehrmacht eingeschlossenen Dünkirchen über den Ärmelkanal gesteuert wurde. Heute sind die Tunnel eine beliebte Touristenattraktion.
„Gateway to England – das Tor nach England“ – so wird Dover genannt. Es ist der bedeutendste Einfuhrort für Waren und Güter, aber auch Einfallstor für Invasoren. Doch dieser Ort, von dem aus Großbritannien das napoleonische Frankreich und das Dritte Reich auf Distanz halten konnte, ist heute zum Ziel einer neuartigen Bedrohung geworden, die sich nicht in militärische Kategorien fassen läßt. Illegale Migranten versuchen seit Jahren verstärkt von Frankreich aus, den Eintritt in das Vereinigte Königreich zu erzwingen, indem sie in Schlauchbooten die englische Südküste ansteuern. Das einzige, was die Migranten von der teilweise lebensgefährlichen Überfahrt zeitweilig abhält, ist das Wetter, so wie der Regen an diesem Tag. Der Höhepunkt in diesem Jahr war im März, als an einem Tag mehr als 500 Migranten anlanden konnten. Insgesamt waren es an dieser Stelle im vergangenen Jahr 29.437 illegale Übertritte. In diesem Jahr liegen die Zahlen bereits höher als in den Vergleichszeiträumen der vergangenen fünf Jahre.
Der britische Premier Rishi Sunak von den konservativen Tories machte es zu einem seiner wichtigsten Versprechen, das Einfallstor zu schließen. Im April verabschiedete nach langem juristischem und politischem Tauziehen das britische Unterhaus ein Gesetz, wonach jeder nach dem 1. Januar 2022 aus einem sicheren Drittland eingereiste illegale Migrant zur weiteren Bearbeitung seines Asylstatus nach Ruanda ausgeflogen werden könne, basierend auf einem Abkommen mit dem ostafrikanischen Land.
Die Anzeichen für den Niedergang Dovers sind unübersehbar
Catherine, die nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden will, arbeitet führend in Dover im kirchlichen Bereich. Bereitwillig gibt sie der JUNGEN FREIHEIT Auskunft über die Stimmung in der Stadt, in der mit über 62 Prozent für den EU-Austritt das Ergebnis des Brexit-Referendums von 2016 besonders deutlich ausgefallen war (landesweit 51,9 zu 48,1 Prozent). Wie erklärt sie sich dieses Ergebnis und glaubt sie, die Bürger von Dover bereuten ihre Entscheidung? Catherine antwortet mit einem entschiedenen „Nein“. Die eindeutige Entscheidung der Wähler von Dover für „Leave“, den EU-Austritt, erklärt sie sich mit dem historisch gewachsenen Bewußtsein als Grenzstadt, die auch gegen den Rest der Welt stehe. Hinsichtlich des Problems mit den Bootsmigranten sieht sie die Gemeinde, in der sie tätig ist, „half and half“ – zur Hälfte gespalten. Es sei ein Problem, das mit dem Brexit größer geworden sei. Viele fürchten negative Effekte für den Tourismus der von Armut geprägten Stadt.
Und in der Tat sind die Anzeichen des Niedergangs von Dover unübersehbar. Dafür stehen in der Innenstadt leere Geschäfte und heruntergekommene Fassaden. Trotz der großen und glorreichen Vergangenheit, an die in Dover auf fast jedem Schritt erinnert wird, bevorzugen die Touristenströme eher das nur eine halbe Autostunde entfernte Canterbury mit seiner weltberühmten Kathedrale. Dover, so Catherine, gehöre zu jenen Orten südlich des Flusses Medway, die von dem Boom der Hauptstadt London nicht profitierten. Immerhin habe die Regierung das Problem vor Ort erkannt und versuche die Stadt mit zusätzlichen Geldern zu revitalisieren.
Dover selbst ist laut Catherine von dem Zustrom an seinem Strand nur mittelbar betroffen, denn: „Die Migranten bleiben nicht hier, maximal eine halbe Stunde, bevor sie von den Behörden in das Aufnahmezentrum in Manston überführt werden.“ Einige der kritischen Stimmen vor Ort gehen gar so weit, den Einsatz der freiwilligen Seenotretter der Royal National Lifeboat Institution, die über einen Stützpunkt im Hafen von Dover verfügen, für die Bootsmigranten in Frage zu stellen: „Sie halten es für eine Verschwendung ihrer freiwilligen Zeit.“
Auf Sunaks Ruanda-Plan gibt Catherine nicht viel: „Ich glaube nicht an Ruanda.“ Sie spricht von 300 Plätzen, die in dem afrikanischen Land zur Verfügung stünden. Dadurch werde es keine Änderung geben. Die Migranten würden weiterhin das Risiko der Überfahrt eingehen.
Vorige Woche gab Sunak den Termin für die nächste Unterhauswahl in Großbritannien bekannt, mit dem 4. Juli, vier Monate früher als erwartet. Inzwischen mußte der Premier eingestehen, daß die ersten Flüge nach Ruanda nicht vor dem Wahltermin abheben würden. Gleichwohl verband er die Durchführung dieser Politik mit dem Verbleib seiner Person im Amt: „Ich glaube an eine Abschreckung. Ich glaube, daß wenn Menschen illegal hierherkommen, sollten sie nicht in der Lage sein hierzubleiben, wir sollten in der Lage sein, sie in ein sicheres Drittland wie Ruanda zu entfernen.“
Daß der Ruanda-Plan ohne Effekt bliebe, kann nicht behauptet werden. Für das Nachbarland Irland hat es sogar einen höchst unerwünschten Effekt. Die ohnehin unter einer anhaltend hohen Einwanderung leidende Republik verzeichnet über die offene Grenze zur britischen Provinz Nordirland ein zunehmendes Einströmen.
Irischen Medienberichten zufolge setzen sich neuesten Zahlen zufolge 80 Prozent der Neuankömmlinge aus Personen zusammen, die über Nordirland einreisen. Lieber ziehen die Illegalen in Großbritannien weiter, als das Risiko eines Abflugs nach Ruanda einzugehen. Wo das Vereinigte Königreich sein Vordertor schließt, um sich gegen den Zustrom zu schützen, nutzt es gleichzeitig seine Hintertür, um den vorhandenen „Überschuß“ ablaufen zu lassen.
Die Bedeutung der Einwanderungsfrage für die britische Innenpolitik kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie war mit einer der wichtigsten Gründe für die Wähler, im Brexit-Referendum für den Austritt zu stimmen. Der Slogan der Austrittsbefürworter „Take back control – die Kontrolle zurückerlangen“ – war vor allem so verstanden worden, die Souveränität darüber zurückzuerlangen, wer in das Land einreist und wer nicht, eine Entscheidung, die dem Land von Brüssel weitgehend aus der Hand genommen wurde.
Die britische Wählerschaft erscheint desillusioniert
Die Tories haben den Zusammenhang erkannt und sich nach dem Brexit-Referendum zunehmend dem rechtsgerichteten Populismus geöffnet, eine Strategie, die niemand so gut verkörperte wie Ex-Premier Boris Johnson, der damit in der Unterhauswahl 2019 sogar die „Red Walls“, die Hochburgen der sozialdemokratischen Labour Party im Norden Englands, schleifte und so dem Rivalen eine historische Wahlniederlage bescherte.
Gleichwohl machte Johnson seine Erfolge mit seinen Skandalen in der Corona-Krise zunichte. Seine kurze und glücklose Nachfolgerin Liz Truss zerschlug mit ihrer Absicht der Rückkehr zur neoliberalen Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers weiteres Porzellan. Nach nur 44 Tagen im Amt folgte ihr Schatzkanzler Sunak ins Amt. Aber auch ihm gelang es nicht, den Kontakt zu den Wählern wiederherzustellen und die Umfragewerte zu verbessern.
Die britische Wählerschaft scheint weitgehend desillusioniert und apathisch. Dabei belegen Meinungsumfragen, daß nach wie vor ein erheblicher Bedarf nach einer populistischen Kraft besteht, die neben dem Widerstand zu den woken Werten der linksliberalen Elite eine Einwanderungspolitik in Aussicht stellt, die weit unter den bisherigen Zahlen liegt. Premier Sunak scheint das begriffen zu haben.
Weniger in Ruanda, sondern vor allem am Strand von Dover entscheidet sich nicht nur, ob Großbritannien die Kontrolle über seine Einwanderungspolitik zurückerlangt, sondern auch das Schicksal der damit verknüpften Tories als weltweit älteste und aber nicht mehr erfolgreichste politische Partei – denn Mr. Brexit, Nigel Farage, nimmt den Unmut der Briten mit seiner Rückkehr auf die politische Bühne mit der Reform UK-Party auf und mischt den britischen Politzirkus ordentlich durch. Innerhalb von 14 Tagen stieg deren YouGov-Umfragewert um neun Prozentpunkte auf 19 Prozent. Die Konservativen folgen mit 18 und Labour mit 37 Prozent – Tendenz fallend.