© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/24 / 23. Februar 2024

Michelle O’Neill. Erstmals führt eine irische Nationalistin die Regionalregierung der britischen Provinz Nordirland.
Los von London?

Daniel Körtel

Eine historische Zäsur ist die Ernennung Michelle O’Neills Anfang Februar zur neuen Regionalpräsidentin („First Minister“) Nordirlands. Denn während die Briten 1922 den Südteil der irischen Insel in die Unabhängigkeit entließen, konstituierte sich im Norden „ein protestantischer Staat für ein protestantisches Volk“, so dessen erster Premierminister James Craig, der fest mit dem britischen Mutterland verbunden bleiben sollte. Doch gut 100 Jahre später und rund 25 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, das den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten beendete, regiert mit O’Neill nun nicht nur eine Katholikin Craigs „protestantischen Staat“, sondern auch eine Politikerin der irisch-nationalistischen Sinn Féin („Wir selbst“), einst politischer Arm des britischen Erzfeinds, der Untergrundbewegung IRA.

Die Biographie der im südirischen County Cork geborenen 47jährigen bildet das ideale Bindeglied Sinn Féins zwischen dem bewaffneten Kampf der Vergangenheit und dem politischen Kampf der Zukunft. Ihre Großmutter war eine Bürgerrechtsaktivistin, ihr Vater ein IRA-Kämpfer mit hoher Reputation. Ein Cousin starb im Gefecht mit der britischen Spezialeinheit SAS, ein anderer wurde im Schußwechsel mit der Polizei schwer verletzt. Diese Herkunft aus der „Kriegszone“, ohne jedoch selbst darin verstrickt zu sein, verleiht O’Neill hohe Glaubwürdigkeit bei den pro-irischen Katholiken.

Nie war Sinn Féin in einer besseren Position, den Traum einer Wiedervereinigung der Insel wahr werden zu lassen.

Trotz Teenagerschwangerschaft mit 15 konnte sie dank familiärer Hilfe die Schule beenden und eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin absolvieren. Von Beginn an arbeitete sie jedoch in der Politik und gewann 2007 ihren ersten Sitz in der Northern Irland Assembly, dem Regionalparlament in Belfast, wurde Ministerin und schließlich Vorsitzende der Sinn Féin in Nordirland. Ein Posten, der in solchen Kader-Parteien nicht im freien Wettbewerb demokratischer Wahlen bestimmt, sondern in Hinterzimmern ausgekungelt wird. Und so war es der todkranke Martin McGuinness, unbestrittener Anführer der nordirischen Nationalisten, der gegen alle Erwartungen O’Neill 2017 zur Nachfolgerin bestimmte.

Die Regionalwahl 2022 brachte die bislang dominierende pro-britische DUP (Democratic Unionist Party) dem Kollaps nahe und machte Sinn Féin zur stärksten Kraft. Gemäß dem Karfreitagsabkommen stand damit O’Neill das Amt des Regionalpräsidenten in der Allparteienregierung zu. Doch die DUP blockierte sie, so daß London mittels Beamter das Ruder übernehmen mußte. Erst als die britische Regierung 2023 die Brexit-Regularien zur Zollkontrolle zwischen Nordirland und Großbritannien entschärfte, akzeptierten die Unionisten O’Neill.

Brisant ist das nicht nur, weil damit Sinn Féin an der Spitze Nordirlands steht, sondern weil sie als stärkste Kraft in der benachbarten Republik Irland nach der nächsten Parlamentswahl Anfang 2025 womöglich auch dort die Regierung führt. Nie war die Partei der irischen Nationalisten in einer besseren Position, ihren Traum einer Wiedervereinigung der Insel unter ihrer Führung wahr werden zu lassen. Doch für nicht wenige im Norden und Süden ist das angesichts von Sinn Féins Verhältnis zur gewalttätigen Vergangenheit und des nach wie vor aktiven Einflusses des IRA-Armeerats ein Albtraum. Michelle O’Neill muß zeigen, ob sie diese Ängste nehmen kann.