Berichte und Bilder zum Nordirlandkonflikt

Autor: Master1970 (Seite 1 von 8)

Irland: Linksnationale Sinn Fein feiert Erfolg 

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG – www.jungefreiheit.de   Ausgabe 50-24 06.12.24

Irland: Linksnationale Sinn Fein feiert Erfolg 

Dublin. Das Vorziehen der Parlamentswahl auf den vergangenen Freitag hat sich für Irlands Ministerpräsident Simon Harris nicht ausgezahlt. Seine bürgerliche Fine Gael erhielt trotz guter Prognosen der Demoskopen bislang nur 38 der insgesamt 174 Sitze. An die Spitze setzte sich die nationalkonservative Fianna Fail mit vorerst 46 Sitzen. Fianna Fail und Fine Gael bildeten seit der letzten Legislaturperiode zusammen mit den Grünen eine Große Koalition. Überraschend gut schnitt die linksnationalistische Sinn Fein mit 37 Sitzen ab, obgleich ihre Popularität am Sinken schien und damit den Ausschlag für das Vorziehen der Wahlen gab. Eindeutiger Verlierer sind die Grünen, die voraussichtlich nur noch einen Sitz halten können. Weiterhin in der Außenseiterposition ist mit drei Sitzen die weit linke PBP (People Before Profit). Medienbeobachtern zufolge wird eine Neuauflage der Großen Koalition erwartet. An Stelle der Grünen werden dann voraussichtlich die Labour Party in die Regierung eintreten sowie ihre erst 2015 gegründete Abspaltung der Social Democrats, beide bislang mit jeweils elf Sitzen. Aus den Reihen der unabhängigen Abgeordneten, die mit 23 Sitzen besonders gut abschnitten, wurde ebenfalls die Unterstützung für eine von Fianna Fail und Fine Gael geführte Koalition signalisiert. Das auf Präferenzstimmen basierende irische Wahlsystem führt zu einer sehr langwierigen Auszählung. Das endgültige Resultat stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest. Zu den brennendsten Themen des Wahlkampfs zählten vor allem die Wohnungskrise und der chronisch schlechte Zustand des Gesundheitssystems. (dk)

Die Blöcke bröseln auseinander

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/24 / 29. November 2024

Die Blöcke bröseln auseinander

Parlamentswahl Irland: Die bürgerliche Fine Gael und die nationalkonservative Fianna Fail lieben und hassen sich

Daniel Körtel

Was bereits seit dem Spätsommer die Spatzen von Dublins Dächern pfiffen, wurde Anfang November offiziell: Nur wenige Stunden nachdem sich in Washington nach der Präsidentschaftswahl die Verhältnisse klärten, trat Irlands Ministerpräsident Simon Harris an die Öffentlichkeit. Er kündigte an, die ursprünglich für März nächsten Jahres terminierten Parlamentswahlen auf den 29. November, vorzuziehen. Gerade einmal drei Wochen heißer Wahlkampf standen den Parteien und unabhängigen Kandidaten zur Verfügung, doch die Maschinerie lief schon lange vorher an.

Harris steht einer bislang historisch einmaligen Großen Koalition aus den beiden Blöcken seiner bürgerlichen Fine Gael (FG; Familie der Iren) und der nationalkonservativen Fianna Fail (FF; Soldaten des Schicksals) vor, unter Einschluß der Grünen. Diese Koalition wurde 2020 als Zwangslösung gebildet, da die Mehrheitsverhältnisse eine Regierungsbildung nach traditionellem Muster, wonach sich FG und FF in unterschiedlichen Koalitionen einander abwechselten, nicht mehr zuließen.

Die rechte Repräsentationslücke füllen unabhängige Kandidaten

Denn seinerzeit trat erstmals die linksnationalistische Sinn Fein (SF) unter ihrer populären Vorsitzenden Mary Lou McDonald an die Spitze des Parlaments. Doch aufgrund ihrer Vergangenheit als politischer Arm der IRA (Irisch-Republikanische Armee) wollte niemand eine Verbindung mit ihr eingehen. Diese vollkommen neue Situation zwang FG und FF, über einen weiten Schatten zu springen, der bis dahin beide durch den Bürgerkrieg am Beginn der irischen Unabhängigkeit vor rund 100 Jahren scheinbar unüberwindbar voneinander trennte. Aufgrund ihrer ungefähr gleichen Stärke sollten beide Parteien in der Mitte der Legislatur im Ministerpräsidentenamt rotieren.

Harris wiederum, der das Amt des Ministerpräsidenten erst im April von seinem amtsmüden Vorgänger und Parteifreund Leo Varadkar übernommen hatte, sah nach dem schwachen Abscheiden der SF in den Kommunal- und Europawahlen vom Juni und gestiegenen Zustimmungsraten für seine Person ein günstiger Moment gekommen, um bei den Iren eine vorzeitige Bestätigung für eine weitere Amtszeit einzuholen.

An Themen und drängenden Problemen mangelt es keineswegs. Zwar ist die Staatskasse alles andere als klamm – dank eines historischen Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom vergangenen September. Demzufolge waren die Steuervorteile, die Irland dem Technologieunternehmen Apple gewährte, ein klarer Verstoß gegen die Regeln des Binnenmarktes. Apple wurde dementsprechend dazu verurteilt, dem irischen Staat rund 13 Milliarden Euro Steuern nachzuzahlen. Und es sind nicht wenige, die nun nach dem vielen Geld zu greifen trachten.

Denn vor allem die Wohnungskrise brennt den Iren unter den Nägeln. Daneben harrt das chronisch ineffektive Gesundheitssystem einer Lösung. Nicht zuletzt leiden die Iren unter der gegenwärtig hohen Inflation. Und zu schlechter Letzt kommen die Befürchtungen eines ökonomischen Schocks durch die Ankündigung höherer Zölle durch Donald Trump.

Doch seltsamerweise bleibt ein brisantes Thema außen vor. Obwohl sich im Land immer lauter der Protest gegen die Folgen der Migrationswelle erhebt, wird das Thema im Hintergrund gehalten. Angeblich sollen die harten Maßnahmen der Regierung und das deutliche Absinken der Migrationsströme die Wähler erfolgreich beschwichtigen. Immerhin versucht die SF ihrer Klientel insofern entgegenzukommen und damit eine offene Flanke zu schließen, daß ihr zufolge keine weiteren Aufnahmeheime in den Wohngebieten der Arbeiterschaft entstehen sollen, falls sie in eine Regierung eintritt.

In diese rechte Repräsentationslücke versuchen wiederum vereinzelte unabhängige Kandidaten mit klarer Haltung gegen weitere Migration vorzustoßen. Ebenso könnte die im vergangenen Jahr neu gegründete Independent Ireland einen Achtungserfolg erzielen. Bislang hält die erklärte Law-and- Order-Partei 24 kommunale Mandate und eines im EU-Parlament.

Die Auguren der Meinungsforschungsinstitute sehen gegenwärtig eine Bestätigung der Großen Koalition voraus, mit einem deutlichen Vorsprung von Fine Gael vor Fianna Fail, während Sinn Fein auf dem dritten Platz folgt. Die Grünen erwarten Verluste, während der Block aus unabhängigen Kandidaten den Umfragen zufolge auf ein Rekordergebnis zustrebt.

Für Harris könnte sich jedoch in der vergangenen Woche die Stimmung gedreht haben, nachdem ein peinliches Video viral ging. Darin ist zu sehen, wie er die behinderte Mitarbeiterin eines Einkaufsmarktes nach einem kurzen Disput achtlos stehenließ, nachdem sie sich ihm gegenüber beschwerte, er tue nichts für Leute wie sie. Der für Außenstehende zumindest recht ratlos machende Auftritt könnte noch zum Stolperstein für Harris’ wohl orchestrierte Wahlkampagne werden.

Somit bleibt das Rennen weiterhin spannend, ob es Harris gelingt, mit seiner reuevollen Entschuldigung den Kurs auf das eingeschlagene Ziel zu halten oder ob es am Ende in Irland doch noch zu einer weiteren historischen Wende kommt: der Etablierung einer Regierung unter erstmaliger Beteiligung der SF.


Gegen die Brandmauer

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/24 / 22. November 2024

Mary Lou McDonalds Popularität ist perdu, und doch könnte ihre Sinn Féin Irlands Parlamentswahl entscheiden.
Gegen die Brandmauer

Daniel Körtel

Zu den erstaunlichsten Konstanten der irischen Politik in den letzten 25 Jahren zählt der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg Mary Lou McDonalds und ihrer Partei, der linksnationalistischen Sinn Féin („Wir selbst“). Zuletzt schaffte sie es, diese bei der Wahl zum Dáil Éireann („Versammlung Irlands“) 2020 zur stärksten Kraft zu machen. Gleichwohl hält die seit langem bestehende „Brandmauer“ die Partei ob ihrer Vergangenheit als politischer Arm der IRA von jeder Machtoption fern und zwang so die führende, bürgerliche Fine Gael („Familie der Iren“) und die nationalkonservative Fianna Fáil („Soldaten Irlands“) mit den Grünen in die erste Große Koalition.

Im Rückblick erscheint McDonalds steile Karriere keineswegs selbstverständlich. Mit ihrer familiären Herkunft paßte sie kaum in die vor allem von Veteranen des nord­irischen Bürgerkriegs geprägte Partei. 1969 in Dublin geboren, konnte sie als Mittelschichtskind eine Privatschule besuchen, woran sich ein Studium am renommierten Trinity College anschloß. Sie war auf der Suche nach einer Karriere, als Gerry Adams, langjähriger Vorsitzender der Sinn Féin, in der eloquenten und telegenen jungen Frau das ideale Talent für seine Strategie fand, die Partei nach Beginn des nordirischen Friedensprozesses 1998 aus ihrem politischen Schattendasein herauszuholen.

McDonalds Persönlichkeit könnte ausschlaggebend dafür sein, daß Sinn Féin zum Königsmacher wird.

In einer nach außen hin demokratischen Kaderpartei wie Sinn Féin, die tatsächlich aber nach sowjetischem Stil zentralistisch geführt wird und in der zudem der IRA-Armeerat einen unklaren, aber erheblichen Einfluß ausübt, geschieht nichts aus Zufall. Adams stellte sein politisches Wunderkind bewußt in den Vordergrund, aller verhaltenen Kritik zum Trotz. Die bezichtigt McDonald oft des Opportunismus. Außer einem festen Glauben an die Wiedervereinigung mit Nord­irland habe sie wenig echte Überzeugungen zu bieten. Zudem trug ihr die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen für besonders brutale IRA-Terroristen schwere Vorwürfe seitens der Öffentlichkeit ein. Und schließlich ließ sie es an Transparenz bezüglich der Finanzierung ihres villenartigen Eigenheims fehlen. Es waren harte Lehrjahre, in denen Adams aber nie den Glauben an McDonald und die Vision, der sie dienen sollte, verlor, was diese wiederum zu besonderer Treue gegenüber dem „Paten“ verpflichtete.

Es sollte sich für McDonald auszahlen: 2018 erbte sie von Adams endlich den Parteivorsitz, nachdem sie sich bereits als herausragende Parlamentsabgeordnete profiliert hatte. Selbst Ex-Ministerpräsident Bertie Ahern bescheinigte ihr die Eignung für das Amt. Allein durch die Präsenz der inzwischen zweifachen Mutter schien die Brandmauer zumindest brüchig zu werden.

Doch nun, vor der Neuwahl des Parlaments am 29. November, ist vom Höhenflug ihrer Popularität nicht mehr viel übrig. Einerseits wegen der Einwanderung, unter der Irland stöhnt, da vor allem die Sinn-Féin-Klientel dem internationalistischen Anspruch, den die linke Partei heute pflegt, nicht viel abgewinnen kann. Andererseits haben Skandale um sexuell unangemessenes Verhalten einiger Mandatsträger die Partei erschüttert. Und doch kann trotz absehbarer Verluste – allerdings je nach dem noch gänzlich offenen Ausgang der Wahl – McDonalds Persönlichkeit ausschlaggebend sein, die drittplazierte Sinn Féin im Duell zwischen Fine Gael und Fianna Fáil zum Königsmacher zu befördern.

Irland: Rechter wegen Fake News festgenommen

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG – www.jungefreiheit.de   Ausgabe 44-24 25.10.24

Irland: Rechter wegen Fake News festgenommen

DUBlIN. Die irische Polizei legt in der Verfolgung sogenannter Fake News auf rechter Seite straffere Zügel an. Wie die Irish Times in der vergangenen Woche berichtete, wurde im Zuge der Ermittlung zu einem mutmaßlichen Fake-Video ein Mann mittleren Alters in Haft genommen. Das Video zeigte das Foto eines schlafenden Mannes in einem Bus im Bezirk Wicklow südlich von Dublin. Dieser soll sich kurz davor Frauen und Mädchen gegenüber unsittlich entblößt haben. Das Video mit „falschem und unbegründetem“ Inhalt ging im Sommer viral, nachdem die Empörung in der Bevölkerung über die dortige Eröffnung eines Heimes für schutzfordernde Migranten in gewaltsame Proteste ausuferte. Der schlafende Mann, so wurde in dem Video behauptet, sei in jener Einrichtung untergebracht. Die Festnahme erfolgte auf der Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 1976, dem zufolge jeder „wissentlich eine falsche Meldung oder Erklärung abgibt“, wonach „eine Straftat begangen wurde“ und die den Anlaß zu „Bedenken hinsichtlich der Sicherheit von Personen oder Eigentum“ gibt. Im Falle einer Verurteilung droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Dieses Gesetz wurde damit erstmals auf eine derartige mutmaßliche Straftat im rechten Milieu angewandt. Unterdessen wurde bekannt, daß das Justizministerium den umstrittenen Vorschlag über eine schärfere Verfolgung von sogenannter Haßkriminalität nach anhaltender Kritik von Politikern, Free-Speech-Aktivisten und dem Tech-Millionär Elon Musk zurückgezogen hat. (dk)

Das vorzeitige und grausame Ende der Kindheit

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/24 / 13. September 2024

Das vorzeitige und grausame Ende der Kindheit

Irland: Die Aufarbeitung sexuellen Mißbrauchs in kirchlichen Einrichtungen geht in eine neue Runde
Daniel Körtel

Vor nicht allzu langer Zeit galt noch das Klischee von Irland als „der treuesten Tochter der Katholischen Kirche“. Doch innerhalb der letzten Jahrzehnte wurde das Land von einem Wandel erfaßt, der einst uneinnehmbar erscheinende Machtbastionen der Kirche bis auf den Grund schleifte. Die neueste Runde in diesem für die irische Gesellschaft zuweilen schmerzvollen Säkularisierungsprozeß erfolgte in der vergangenen Woche mit der Veröffentlichung eines umfassenden Untersuchungsberichtes über weit verbreiteten sexuellen Mißbrauch in Bildungseinrichtungen kirchlicher Organisationen.

Traditionell ist in Irland das Erziehungswesen seit jeher in der Hand kirchlicher Träger gewesen. Staatlich finanzierte Schulen unter der Führung von Laien gibt es bislang kaum. Für den chronisch klammen Staat war dies eine günstige Lösung. Doch was innerhalb der Schulen vor sich ging, interessierte die Behörden weniger.

Den Stein ins Rollen brachten die Gebrüder David und Mark Ryan, als sie im November 2022 in einer Fernsehdokumentation mit ihren Erlebnissen an dem vom Orden der Spiritaner geführten Blackrock College an die Öffentlichkeit traten, einer weiterführenden Jungen-Schule im gleichnamigen Vorort südlich von Dublin. Nach seiner Ausstrahlung meldeten sich weitere hundert Opfer. Der Orden gab zu, bereits seit 2004 mehrere Millionen Euro an Entschädigungszahlungen geleistet zu haben. Die Regierung versprach, in einem Bericht weitere Aufklärung zu leisten.

Die nun in dem offiziellen Bericht aufgeführten Zahlen haben es in sich: 2.395 Mißbrauchsanschuldigungen, hauptsächlich von Männern, entfallen auf 884 mutmaßliche Täter, zurückgehend bis in die 1960er Jahre. Untersucht wurden 308 Schulen, die von 42 religiösen Gemeinschaften geführt werden. Insgesamt betreiben in Irland 69 Orden Schulen in eigener Trägerschaft. Immerhin ein Viertel der Anschuldigungen entfallen auf Schulen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf. Es wird von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen.

Die Aufklärungsarbeit soll fortgesetzt werden

Die Beschreibungen der Opfererlebnisse eröffnen eine düstere Perspektive. So wurden sie „belästigt, nackt ausgezogen, vergewaltigt und unter Drogen gesetzt, in einer Atmosphäre des Terrors und der Stille“ mit lebenslangen traumatischen Folgen. Für viele von ihnen habe die Kindheit an dem Tag geendet, als der Mißbrauch begann.

Die Aufklärungsarbeit soll fortgesetzt werden. Bildungsministerin Norma Foley nahm die Empfehlung des Berichtes nach einer Entschädigung für die Opfer positiv auf. Ebenso wurde die Forderung erhoben, die Untersuchung auf nicht-konfessionelle Träger auszuweiten.

Für John McManus, Kolumnist der Irish Times, der selbst Ende der 1970er Jahre auf das Blackrock College ging, gleichwohl ohne selbst Betroffener sexuellen Mißbrauchs dort geworden zu sein, öffnen sich für den Orden der Spiritaner, der in Deutschland das Heilig-Geist-Gymnasium in Würselen betreibt, bei weiteren Untersuchungen unangenehme Aussichten: „Es wird aufschlußreich sein, ob das Blackrock College in bezug auf das Ausmaß des Mißbrauchs weiterhin ein Ausreißer bleibt, wenn die Kommission ihre Arbeit beendet. Wenn dies der Fall ist, müssen sich alle mit der Schule verbundenen Personen mit der Vorstellung auseinandersetzen, daß die Spiritaner und die von ihnen geleiteten Institutionen etwas ungewöhnlich Grausames an sich hatten.“

Das Vordertor schließen, die Hintertür öffnen

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/24 / 21. Juni 2024

Das Vordertor schließen, die Hintertür öffnen

Großbritannien: Das „Tor nach England“ ist zur Einfallstür der illegalen Immigration geworden

Daniel Körtel

Oje. Es regnet mal wieder Hunde und Katzen. Auch an diesem Tag im Mai ist auf dem Kreidefelsen über der Hafenstadt Dover im Südosten Englands diese trübe Wetterlage angesagt. Doch die Regenfälle an diesem Tag sind immerhin so ergiebig, daß man sich über den Hinweis im Badezimmer der Unterkunft, man möge mit dem Wasserverbrauch sparsam sein – denn die Grafschaft Kent, zu der Dover gehört, sei der trockenste Landesteil Englands –, nur wundern mag.

Der Kreidefelsen zählt zu den Touristenattraktionen Englands. Zum Tag des vollzogenen Brexits, des Austritts Großbritanniens aus der EU, wurde er im Januar 2021 zur idealen Leinwand für einen letzten darauf projizierten mehrsprachigen Abschiedsgruß der Briten an die EU-Europäer.

Premier Rishi Sunak verspricht, das Einfallstor zu schließen

Nirgendwo ist die Distanz zwischen Britannien und dem europäischen Kontinent kürzer als in Dover. Bis zum gegenüberliegenden Calais sind es nur rund 50 Kilometer. An besonders guten Tagen ist die französische Küste durchaus sichtbar. Doch dieser Regentag läßt diese ideale Sicht nicht zu. Unterhalb des Kreidefelsens ist der Fährhafen, von dem die Lautsprecherdurchsagen mit den Anweisungen für die LKWs von und zu den Fähren bis nach oben dringen.

Die Wolkendecke hängt so tief, daß der Bergfried der in normannischer Zeit errichteten Burg verschwindet. Die militärischen Befestigungen aus historischer Zeit dokumentieren den strategischen Wert Dovers. Bereits die Römer errichteten hier eine Marinebasis. In den Burgberg selbst trieben britische Pioniere ein Tunnelsystem, das im Zweiten Weltkrieg einen der bedeutendsten Knotenpunkte im militärischen System Großbritanniens darstellte. Hier war das Hauptquartier, von dem aus die legendäre „Operation Dynamo“, die erfolgreiche Rückholung des verbliebenen britischen Expeditionskorps und der Reste der französischen Armee aus dem von der Wehrmacht eingeschlossenen Dünkirchen über den Ärmelkanal gesteuert wurde. Heute sind die Tunnel eine beliebte Touristenattraktion.

„Gateway to England – das Tor nach England“ – so wird Dover genannt. Es ist der bedeutendste Einfuhrort für Waren und Güter, aber auch Einfallstor für Invasoren. Doch dieser Ort, von dem aus Großbritannien das napoleonische Frankreich und das Dritte Reich auf Distanz halten konnte, ist heute zum Ziel einer neuartigen Bedrohung geworden, die sich nicht in militärische Kategorien fassen läßt. Illegale Migranten versuchen seit Jahren verstärkt von Frankreich aus, den Eintritt in das Vereinigte Königreich zu erzwingen, indem sie in Schlauchbooten die englische Südküste ansteuern. Das einzige, was die Migranten von der teilweise lebensgefährlichen Überfahrt zeitweilig abhält, ist das Wetter, so wie der Regen an diesem Tag. Der Höhepunkt in diesem Jahr war im März, als an einem Tag mehr als 500 Migranten anlanden konnten. Insgesamt waren es an dieser Stelle im vergangenen Jahr 29.437 illegale Übertritte. In diesem Jahr liegen die Zahlen bereits höher als in den Vergleichszeiträumen der vergangenen fünf Jahre.

Der britische Premier Rishi Sunak von den konservativen Tories machte es zu einem seiner wichtigsten Versprechen, das Einfallstor zu schließen. Im April verabschiedete nach langem juristischem und politischem Tauziehen das britische Unterhaus ein Gesetz, wonach jeder nach dem 1. Januar 2022 aus einem sicheren Drittland eingereiste illegale Migrant zur weiteren Bearbeitung seines Asylstatus nach Ruanda ausgeflogen werden könne, basierend auf einem Abkommen mit dem ostafrikanischen Land.

Die Anzeichen für den Niedergang Dovers sind unübersehbar

Catherine, die nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden will, arbeitet führend in Dover im kirchlichen Bereich. Bereitwillig gibt sie der JUNGEN FREIHEIT Auskunft über die Stimmung in der Stadt, in der mit über 62 Prozent für den EU-Austritt das Ergebnis des Brexit-Referendums von 2016 besonders deutlich ausgefallen war (landesweit 51,9 zu 48,1 Prozent). Wie erklärt sie sich dieses Ergebnis und glaubt sie, die Bürger von Dover bereuten ihre Entscheidung? Catherine antwortet mit einem entschiedenen „Nein“. Die eindeutige Entscheidung der Wähler von Dover für „Leave“, den EU-Austritt, erklärt sie sich mit dem historisch gewachsenen Bewußtsein als Grenzstadt, die auch gegen den Rest der Welt stehe. Hinsichtlich des Problems mit den Bootsmigranten sieht sie die Gemeinde, in der sie tätig ist, „half and half“ – zur Hälfte gespalten. Es sei ein Problem, das mit dem Brexit größer geworden sei. Viele fürchten negative Effekte für den Tourismus der von Armut geprägten Stadt.

Und in der Tat sind die Anzeichen des Niedergangs von Dover unübersehbar. Dafür stehen in der Innenstadt leere Geschäfte und heruntergekommene Fassaden. Trotz der großen und glorreichen Vergangenheit, an die in Dover auf fast jedem Schritt erinnert wird, bevorzugen die Touristenströme eher das nur eine halbe Autostunde entfernte Canterbury mit seiner weltberühmten Kathedrale. Dover, so Catherine, gehöre zu jenen Orten südlich des Flusses Medway, die von dem Boom der Hauptstadt London nicht profitierten. Immerhin habe die Regierung das Problem vor Ort erkannt und versuche die Stadt mit zusätzlichen Geldern zu revitalisieren.

Dover selbst ist laut Catherine von dem Zustrom an seinem Strand nur mittelbar betroffen, denn: „Die Migranten bleiben nicht hier, maximal eine halbe Stunde, bevor sie von den Behörden in das Aufnahmezentrum in Manston überführt werden.“ Einige der kritischen Stimmen vor Ort gehen gar so weit, den Einsatz der freiwilligen Seenotretter der Royal National Lifeboat Institution, die über einen Stützpunkt im Hafen von Dover verfügen, für die Bootsmigranten in Frage zu stellen: „Sie halten es für eine Verschwendung ihrer freiwilligen Zeit.“

Auf Sunaks Ruanda-Plan gibt Catherine nicht viel: „Ich glaube nicht an Ruanda.“ Sie spricht von 300 Plätzen, die in dem afrikanischen Land zur Verfügung stünden. Dadurch werde es keine Änderung geben. Die Migranten würden weiterhin das Risiko der Überfahrt eingehen.

Vorige Woche gab Sunak den Termin für die nächste Unterhauswahl in Großbritannien bekannt, mit dem 4. Juli, vier Monate früher als erwartet. Inzwischen mußte der Premier eingestehen, daß die ersten Flüge nach Ruanda nicht vor dem Wahltermin abheben würden. Gleichwohl verband er die Durchführung dieser Politik mit dem Verbleib seiner Person im Amt: „Ich glaube an eine Abschreckung. Ich glaube, daß wenn Menschen illegal hierherkommen, sollten sie nicht in der Lage sein hierzubleiben, wir sollten in der Lage sein, sie in ein sicheres Drittland wie Ruanda zu entfernen.“

Daß der Ruanda-Plan ohne Effekt bliebe, kann nicht behauptet werden. Für das Nachbarland Irland hat es sogar einen höchst unerwünschten Effekt. Die ohnehin unter einer anhaltend hohen Einwanderung leidende Republik verzeichnet über die offene Grenze zur britischen Provinz Nordirland ein zunehmendes Einströmen.

Irischen Medienberichten zufolge setzen sich neuesten Zahlen zufolge 80 Prozent der Neuankömmlinge aus Personen zusammen, die über Nordirland einreisen. Lieber ziehen die Illegalen in Großbritannien weiter, als das Risiko eines Abflugs nach Ruanda einzugehen. Wo das Vereinigte Königreich sein Vordertor schließt, um sich gegen den Zustrom zu schützen, nutzt es gleichzeitig seine Hintertür, um den vorhandenen „Überschuß“ ablaufen zu lassen.

Die Bedeutung der Einwanderungsfrage für die britische Innenpolitik kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie war mit einer der wichtigsten Gründe für die Wähler, im Brexit-Referendum für den Austritt zu stimmen. Der Slogan der Austrittsbefürworter „Take back control – die Kontrolle zurückerlangen“ – war vor allem so verstanden worden, die Souveränität darüber zurückzuerlangen, wer in das Land einreist und wer nicht, eine Entscheidung, die dem Land von Brüssel weitgehend aus der Hand genommen wurde.

Die britische Wählerschaft erscheint desillusioniert

Die Tories haben den Zusammenhang erkannt und sich nach dem Brexit-Referendum zunehmend dem rechtsgerichteten Populismus geöffnet, eine Strategie, die niemand so gut verkörperte wie Ex-Premier Boris Johnson, der damit in der Unterhauswahl 2019 sogar die „Red Walls“, die Hochburgen der sozialdemokratischen Labour Party im Norden Englands, schleifte und so dem Rivalen eine historische Wahlniederlage bescherte.

Gleichwohl machte Johnson seine Erfolge mit seinen Skandalen in der Corona-Krise zunichte. Seine kurze und glücklose Nachfolgerin Liz Truss zerschlug mit ihrer Absicht der Rückkehr zur neoliberalen Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers weiteres Porzellan. Nach nur 44 Tagen im Amt folgte ihr Schatzkanzler Sunak ins Amt. Aber auch ihm gelang es nicht, den Kontakt zu den Wählern wiederherzustellen und die Umfragewerte zu verbessern.

Die britische Wählerschaft scheint weitgehend desillusioniert und apathisch. Dabei belegen Meinungsumfragen, daß nach wie vor ein erheblicher Bedarf nach einer populistischen Kraft besteht, die neben dem Widerstand zu den woken Werten der linksliberalen Elite eine Einwanderungspolitik in Aussicht stellt, die weit unter den bisherigen Zahlen liegt. Premier Sunak scheint das begriffen zu haben.

Weniger in Ruanda, sondern vor allem am Strand von Dover entscheidet sich nicht nur, ob Großbritannien die Kontrolle über seine Einwanderungspolitik zurückerlangt, sondern auch das Schicksal der damit verknüpften Tories als weltweit älteste und aber nicht mehr erfolgreichste politische Partei – denn Mr. Brexit, Nigel Farage, nimmt den Unmut der Briten mit seiner Rückkehr auf die politische Bühne mit der Reform UK-Party auf und mischt den britischen Politzirkus ordentlich durch. Innerhalb von 14 Tagen stieg deren YouGov-Umfragewert um neun Prozentpunkte auf 19 Prozent. Die Konservativen folgen mit 18 und Labour mit 37 Prozent – Tendenz fallend.

Der Preis des Verrats

Nicholas Searle – „Verrat“
Kindler Verlag,
2018
352 Seite

Der Kampf der IRA (Irish Republican Army) gegen die Briten vollzog sich nicht in den Kategorien des offenen Krieges. Angewandt wurden die Methoden des asymmetrischen Krieges der Guerilla: Sprengstoffanschläge, Attentate und orchestrierte Aufstände standen gegen eine der konventionell hochgerüstesten Militärmächte der Welt. Die Briten wiederum setzten auf die Feindaufklärung durch ihre Nachrichtendienste, die immerhin auf eine Tradition der Erfahrung seit der Zeit Elisabeth I. zurückblicken konnten. Das Ziel bestand vor allem in der heimlichen Informationsbeschaffung aus den inneren Zirkeln der klandestinen Organisation, entweder durch Einschleusung eigener Agenten – oder durch die Gewinnung von Informanten aus deren eigenen Reihen. Beide Seiten hatten natürlich ihre eigene Perspektive auf diese Art der Infiltration. Für die Briten war es eine legitime Informationsbeschaffung, die Leben retten konnte. Für die IRA war es schlichtweg Verrat. Entsprechend erbarmungslos und brutal war ihr Umgang mit „Verrätern“.

Der britische Autor Nicholas Searle erzählt die Geschichte eines solchen „Verrat“, so der gleichnamige Titel seines hochspannenden Thrillers aus dem Jahr 2018. Sie ist geradezu klassisch und idealtypisch für dieses zeitlose Thema. In dem von ihm ausgebreiteten Plot über den Zeitraum von 1989 bis 2005 bleibt er nahe an der Historie des Nordirlandkonfliktes, während er seine ambivalenten Protagonisten und ihr jeweiliges Umfeld authentisch schildert.

Francis O’Neill sollte sich eigentlich glücklich schätzen. Der IRA-Terrorist wurde gerade vorzeitig aus dem berüchtigten Maze-Gefängnis in Nordirland entlassen. Im Zuge des Karfreitagsabkommens kam er 2000 als einer der letzten Inhaftierten bereits nach fünf von 41 Jahren frei. Doch er findet keine Ruhe. Wie konnten ihm die britischen Behörden damals auf die Schliche kommen? Der erfahrene Kämpfer flog bereits kurz vor der endgültigen Ausführung seines Coups auf einen britischen Parlamentsabgeordneten auf; die Bombe war schon scharf gestellt. Hatten die Briten einfach nur Glück – oder wurde Francis Opfer eines Verräters aus den eigenen Reihen?

Da war sein früherer Kamerad Mikey Sullivan. Nachdem ihn die Briten schnappten, kam der schnell wieder auf freien Fuß. Francis offenes Unbehagen über Mikeys mutmaßlichen Verrat versetzt jedoch die IRA in Verlegenheit, denn in der heiklen Phase des Friedensprozesses braucht sie Ruhe in den eigenen Reihen, zumal sie Mikey nichts nachweisen konnte. Doch Francis gibt keine Ruhe und wird Mikey und der IRA zunehmend lästig…

War es vielleicht Joe Gerathy, der Kommandeur von Francis Einheit? Der Mann, dessen distinguierte Fassade eines Gentlemans den Charakter eines eiskalten Killers verbirgt, gehört trotz seiner Rolle in der IRA zu den Gewinnern des Friedensprozesses, der ihm die Karriere eines Politikers mit Ministerposten einbrachte. Hatte er seinerzeit Francis in seinen heimlichen Verhandlungen mit den Briten an die Gegenseite verschachert?

Oder war es etwa Bridget, seine Ehefrau, deren Liebe langsam, wie bei ihm selbst, erkaltet ist…?

Wer auch immer der Verräter ist, Searle hält am Ende eine Überraschung bereit. Und wie immer man die Sache des Verrats bewertet, sie setzt den Betreffenden ungeachtet seiner Motive dem größten Risiko aus.


Von Schlägern zu Dealern

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/24 / 29. März 2024

Von Schlägern zu Dealern
Irlands Drogengeschäft: Der Aufstiegsrausch hat zur Geburt transnationaler Kartelle geführt
Daniel Körtel

So blutig wurde im „Brownes Steakhouse“ wohl kein Steak genossen. Der Familienvater Jason Hennessey saß an Heiligabend in einem vollen Restaurant im Dubliner Vorort Blanchardstown mit seinem erwachsenen Sohn und anderen Kumpanen zu Tisch. Dann trat Tristan Sherry, ein junger Kleinkrimineller an ihn heran und schoß ihm mit einer kleinen Maschinenpistole mehr als einmal in den Nacken. Der Schuß ging aber nach hinten los – als es zu einer Ladehemmung kam, ergriffen Hennesseys Kumpane die Gelegenheit. Sie stürzten sich auf den Schützen, schlugen und stachen fast 30mal auf ihn ein, so daß er noch an Ort und Stelle seinen Verletzungen erlag. Sein Opfer starb zehn Tage später an den Folgen der Schußverletzungen.

Der Zwischenfall erinnerte die Iren in drastischer Weise daran, wie ihre Insel seit Jahrzehnten unter der organisierten Kriminalität leidet. Inzwischen hat sich „Gangland“ in den allgemeinen Sprachgebrauch eingebürgert. Oft verschwimmen die Grenzen zu den paramilitärischen Gruppierungen nationalistischer Fraktionen. Ihre Strukturen bildeten sich erst ab den 1960er Jahren mit aufkommendem Wohlstand und dem Aufstieg des Landes zum „Keltischen Tiger“, von dem vor allem die neue Mittelschicht profitierte, während die Unterschicht nicht mithalten konnte.

Im verarmten Norden Dublins erkannten die bisher als Räuber und Lösegelderpresser tätigen Gangster ein neues Potential im Drogenhandel. Die sozialen Aufsteiger boten Nachfrage nach dem vermeintlich „sauberen“ Kokain. Die fast 1.500 Kilometer lange, kaum zu überwachende Küstenlinie der grünen Insel wirkte wie ein Sieb, durch das das weiße Gift in die Gesellschaft einsickern konnte.

An die Spitze der Hierarchie setzte sich das Kartell um Christy Kinahan und seine Söhne Christopher Jr. und Daniel. Die Knotenpunkte ihres Netzwerkes verliefen durch die Umschlagplätze Antwerpen, Rotterdam und Spanien, über die das Kokain aus den Anbaugebieten Südamerikas kam. Gemeinsam mit der niederländisch-marokkanischen Mafia, der italienischen Camorra und dem osteuropäischen Mob bildeten sie ein Super-Kartell. Irlands Immobilienboom bot beste Gelegenheiten, das Drogengeld zu waschen.

Beispielsweise in der Sportbranche. Dabei wurde auch keineswegs vor dem Einsatz öffentlich inszenierter Gewalt zurückgeschreckt. Ihr Höhepunkt war der im Februar 2016 mit militärischer Präzision ausgeführte Überfall eines Kommandos der konkurrierenden „Hutch Gang“ auf das Dubliner Regency-Hotel, in dem zur Vorbereitung eines Box-Matches das Wiegen der Athleten stattfand. Das sechsköpfige Kommando war als Spezialeinheit der Polizei verkleidet, einer davon sogar als Frau. Das Ziel, Box-Promoter Daniel Kinahan, war jedoch frühzeitig gegangen. So traf es einen seiner engsten Kumpane, David Byrne. Die Kämpfe der beiden Gangs forderten 18 Todesopfer und konnten nur dank massiven Polizeieinsatzes gestoppt werden.

Die junge Generation füllt das Machtvakuum

Nach dem Mord an Byrne haben die Kinahans Dubai als sicheren Rückzugsort gewählt. Der Grund: Es besteht kein Auslieferungsabkommen mit Irland. Zudem kommt das in islamischen Staaten verwendete Hawala-Finanzsystem den Interessen des Kartells perfekt entgegen. Die darüber laufenden Transaktionen werden kaum dokumentiert. Doch inzwischen zieht sich die Schlinge um den Drogenclan immer enger. 2022 verhängten die US-Behörden gemeinsam mit ihren irischen und britischen Kollegen Sanktionen gegen die Clan-Führung und lobten eine Belohnung von 5 Millionen Dollar aus für Informationen, die zu ihrer Festnahme und Verurteilung führen.

Anfang dieses Monats fand ausgerechnet in Dubai der Weltgipfel der Polizei statt. Irlands Polizeichef Drew Harris gab sich dort vor seinen internationalen Kollegen zerknirscht darüber, daß sich die Kinahans seit den 1980er Jahren von einer kleinen Gang in Dublin zu einem globalen Drogenkartell mit einem Wert von über einer Milliarde Euro entwickelten. Immerhin fand er darin Trost, daß die Isolation in Dubai nicht nur das Geschäft erschwere: „Für Daniel Kinahan wird es nur noch sehr wenige Selfies mit Prominenten geben.“

Doch es ist kaum anzunehmen, daß die Ausschaltung des Kartells zu einem Ende der Drogenschwemme führen wird. Laut dem United Nations Office on Drugs and Crime ist Irland das Land mit dem weltweit vierthöchsten Bevölkerungsanteil der Kokainkonsumenten. Die Organisation warnte vor steigender Gewalt im Kampf um expandierende Märkte. Die irische Investigativjournalistin Nicola Tallant macht dabei eine eindrucksvolle Rechnung um die Gewinne in dem Milliarden-Geschäft um das weiße Gift auf: „Ein Kilo Kokain im Einzelverkauf von ungefähr 1.500 Euro an der Quelle hat eine Spanne von 70.000 Euro, sobald es in den Pubs und Clubs in Irland aufschlägt. Es ist die Nachfrageseite, die vermutlich am eigenartigsten ist.“

Noch deutlicher beschreibt Michael O’Sullivan, der Ex-Direktor des Maritime Analysis Operation Center die Zukunft des Kokainhandels: „Junge Menschen haben ein immer höheres verfügbares Einkommen. Sie haben kein Problem damit, Kokain zu kaufen und sehen nicht ein, warum sie es nicht tun sollten.“ Ebenso wird das nach der Flucht der Kinahans entstandene Machtvakuum von den jungen „Instagram-Gangstern“ gefüllt. Sie treten nicht nur aggressiver auf, sie präsentieren sich offen in den sozialen Netzwerken. Tallant zufolge trat eine chaotische Situation ein, deren Weg sich zu den Schulden zurückverfolgen läßt, die die neuen Akteure bei den Kinahans angehäuft haben.

Die anhaltende Flutung Irlands durch illegale Drogen machten zuletzt zwei Meldungen deutlich: Ende Dezember entdeckten Ermittler in Limerick auf einem aus Brasilien kommenden Frachtschiff hochreines Kokain im Wert von 20 Millionen Euro. Und im Hafen Corks kam eine halbe Tonne Crystal Meth zum Vorschein. Der mutmaßliche Exporteur: das Sinola-Kartell aus Mexiko, das aufgrund seiner Brutalität als besonders gefürchtet gilt. Im Fokus der Ermittlungen steht Morris O’Shea Salazar, ein Mann mit irisch-mexikanischen Wurzeln, der der obersten Ebene des Sinola-Kartells zugerechnet wird. Die Sucht der Konsumenten und die Gier der Drogen-Clans bilden die feste Klammer, die Irland noch lange im Griff behalten wird.

Irland: Kein Schutz für die „Ehe light“

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG – www.jungefreiheit.de   Ausgabe 12-24 15.03.24

Irland: Kein Schutz für die „Ehe light“

DUBLIN. Zwei am vergangenen Freitag in Irland abgehaltene Referenden über Verfassungsänderungen zum Status von Ehe und Familie sind mit übergroßer Mehrheit von den Wählern abgewiesen worden. Das erste Referendum über die Ehe hätte auch „andere dauerhafte Beziehungen“ auf den gleichen Status der traditionellen Ehe als „natürliche Primär- und Grundeinheit der Gesellschaft“ gehoben. Damit einhergehend wäre die Eheschließung als vom Staat zu schützende Grundvoraussetzung der Familie entfallen. Das zweite Referendum betraf die Rolle der Frau in der Familie. In der seit 1937 geltenden Verfassung anerkennt der Staat, daß „die Frau dem Staat durch ihr Leben zu Hause eine Unterstützung leistet, ohne die das Gemeinwohl nicht erreicht werden kann.“ Daher solle sichergestellt werden, daß Frauen nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit ihre Pflichten im Haushalt vernachlässigten. Dieser Teil der Verfassung wäre bei einer erfolgreichen Annahme durch einen allgemein gehaltenen Text über „Mitglieder einer Familie aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Bindungen“ ersetzt worden, ohne daß dabei die Funktion im familiären Haushalt an erster Stelle gesetzt wäre. Beide von allen politischen Parteien unterstützten Referenden sind mit jeweils 67,7 beziehungsweise 73,9 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt worden. (dko)

Los von London?

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/24 / 23. Februar 2024

Michelle O’Neill. Erstmals führt eine irische Nationalistin die Regionalregierung der britischen Provinz Nordirland.
Los von London?

Daniel Körtel

Eine historische Zäsur ist die Ernennung Michelle O’Neills Anfang Februar zur neuen Regionalpräsidentin („First Minister“) Nordirlands. Denn während die Briten 1922 den Südteil der irischen Insel in die Unabhängigkeit entließen, konstituierte sich im Norden „ein protestantischer Staat für ein protestantisches Volk“, so dessen erster Premierminister James Craig, der fest mit dem britischen Mutterland verbunden bleiben sollte. Doch gut 100 Jahre später und rund 25 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, das den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten beendete, regiert mit O’Neill nun nicht nur eine Katholikin Craigs „protestantischen Staat“, sondern auch eine Politikerin der irisch-nationalistischen Sinn Féin („Wir selbst“), einst politischer Arm des britischen Erzfeinds, der Untergrundbewegung IRA.

Die Biographie der im südirischen County Cork geborenen 47jährigen bildet das ideale Bindeglied Sinn Féins zwischen dem bewaffneten Kampf der Vergangenheit und dem politischen Kampf der Zukunft. Ihre Großmutter war eine Bürgerrechtsaktivistin, ihr Vater ein IRA-Kämpfer mit hoher Reputation. Ein Cousin starb im Gefecht mit der britischen Spezialeinheit SAS, ein anderer wurde im Schußwechsel mit der Polizei schwer verletzt. Diese Herkunft aus der „Kriegszone“, ohne jedoch selbst darin verstrickt zu sein, verleiht O’Neill hohe Glaubwürdigkeit bei den pro-irischen Katholiken.

Nie war Sinn Féin in einer besseren Position, den Traum einer Wiedervereinigung der Insel wahr werden zu lassen.

Trotz Teenagerschwangerschaft mit 15 konnte sie dank familiärer Hilfe die Schule beenden und eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin absolvieren. Von Beginn an arbeitete sie jedoch in der Politik und gewann 2007 ihren ersten Sitz in der Northern Irland Assembly, dem Regionalparlament in Belfast, wurde Ministerin und schließlich Vorsitzende der Sinn Féin in Nordirland. Ein Posten, der in solchen Kader-Parteien nicht im freien Wettbewerb demokratischer Wahlen bestimmt, sondern in Hinterzimmern ausgekungelt wird. Und so war es der todkranke Martin McGuinness, unbestrittener Anführer der nordirischen Nationalisten, der gegen alle Erwartungen O’Neill 2017 zur Nachfolgerin bestimmte.

Die Regionalwahl 2022 brachte die bislang dominierende pro-britische DUP (Democratic Unionist Party) dem Kollaps nahe und machte Sinn Féin zur stärksten Kraft. Gemäß dem Karfreitagsabkommen stand damit O’Neill das Amt des Regionalpräsidenten in der Allparteienregierung zu. Doch die DUP blockierte sie, so daß London mittels Beamter das Ruder übernehmen mußte. Erst als die britische Regierung 2023 die Brexit-Regularien zur Zollkontrolle zwischen Nordirland und Großbritannien entschärfte, akzeptierten die Unionisten O’Neill.

Brisant ist das nicht nur, weil damit Sinn Féin an der Spitze Nordirlands steht, sondern weil sie als stärkste Kraft in der benachbarten Republik Irland nach der nächsten Parlamentswahl Anfang 2025 womöglich auch dort die Regierung führt. Nie war die Partei der irischen Nationalisten in einer besseren Position, ihren Traum einer Wiedervereinigung der Insel unter ihrer Führung wahr werden zu lassen. Doch für nicht wenige im Norden und Süden ist das angesichts von Sinn Féins Verhältnis zur gewalttätigen Vergangenheit und des nach wie vor aktiven Einflusses des IRA-Armeerats ein Albtraum. Michelle O’Neill muß zeigen, ob sie diese Ängste nehmen kann.

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