© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/23 / 28. April 2023
Generation ausgesperrt
Irland: In den großen Städten verarmen immer mehr Menschen. Die junge freiheit hat einen Helfer getroffen
Daniel Körtel
Es herrscht wieder geschäftiges Treiben in der Bow Street. Die enge Straße nahe der Innenstadt der irischen Hauptstadt Dublin, nicht weit vom Strom der Liffey und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Whiskey-Museum der einstigen Brennerei Jameson, ist zu einem Epizentrum der sich verschärfenden sozialen Krise geworden, unter der die Republik Irland leidet. Hier ist das Capuchin Day Centre, wo Bedürftige an den zwei Ausgabestellen zur Straße hin in einer blauen, in der Öffnung verknoteten Tüte ihr tägliches Lebensmittelpaket in Empfang nehmen. Darin enthalten sind Brot, Tee, Zucker, gekochter Schinken, gekochtes Huhn, Butter, Milch, Bohnen und Käse. Es sind Dutzende, die hier innerhalb einer Stunde an diesem Vormittag vorbeikommen und deren Zusammensetzung eine große Bandbreite aufweist.
Im ersten Stock des Gebäudes sitzt Alan Bailey, der Leiter der Einrichtung, in seinem Büro. Der 72jährige frühere Polizist ist seit 2011 auf diesem Posten. Er erzählt über das 1969 gegründete Capuchin Day Centre. Anfangs, als die Umgebung noch von Slums durchsetzt war, bestand die Klientel ausschließlich aus „Männern mit Alkoholproblemen, 20 Leute jeden Tag“. Mit der Verbreitung von Heroin kamen in den 1970er und 80er Jahren obdachlose Frauen hinzu.
Es gibt jedoch einen neuen Trend, von dem Bailey berichtet, mit dem er und seine rund 100 freiwilligen Helfer konfrontiert werden: Es kommen inzwischen verstärkt Familien, die um Hilfe bitten. Darunter sogar solche mit Wohnung und Haus. Die „Kundschaft“ werde globaler. Die Zahlen sprechen für sich: 1.400 Lebensmittelpakete werden täglich ausgegeben, zum Frühstück kommen 300 Personen und zum Mittagessen 700 in den kleinen Speisesaal, wo in einer Ecke sich die fertig verpackten blauen Tüten zu Haufen stapeln. Das Angebot wurde inzwischen erweitert. Das Center bietet auch kostenlose medizinische Hilfe an, ebenso einen Friseur und Duschmöglichkeiten.
Bailey bringt die Philosophie des Centers auf den Punkt: „Niemand fragt nach Namen, wir beurteilen nicht.“ – Anonymität ist garantiert. Selbst auf die Ernährungsgewohnheiten von Muslimen wird Rücksicht genommen. Damit entfällt auch jede Registrierung einer Zuwendung. Die Ausnahmen bilden lediglich die Ärzte für ihre Untersuchungen. Das Center enthält sich auch jeder politischen Stellungnahme. Die Kosten von rund 4 Millionen Euro pro Jahr werden aus Spenden finanziert, zu denen die irische Regierung 400.000 Euro beisteuert. „Wir hatten nicht erwartet, derart beschäftigt zu sein“, so Bailey über die jüngste Entwicklung, aber der Einsatz praktischer Nächstenliebe sei lohnend. Dennoch: „Wir hoffen, es wird enden.“
Die Mieten in Dublin haben sich seit 2010 fast verdoppelt
Das Capuchin Day Centre ist ein Laienapostolat – ein so bezeichneter „Sendungsauftrag der Kirche an die Gläubigen“ – des Kapuzinerordens, der wiederum aus dem von dem heiligen Franziskus (1181/82–1226) gegründeten Bettelorden der Franziskaner hervorgegangen ist und dessen bekanntestes Merkmal die nach hinten spitz zulaufenden Kapuzen ihrer Mönchskutten sind. Die Räumlichkeiten in Dublin sind Eigentum des Ordens, Vorsitz und Vorstand werden größtenteils von den Kapuzinern gestellt, doch werden Mönche wie tätige Laien vom selben Ethos getragen. Wie eine Auszeichnung war der Besuch von Papst Franziskus, der 2018 bei seiner Irland-Reise auch dem Center seine Aufwartung machte und dort im Speisesaal Platz nahm.
Es erscheint paradox: 2013 hat Irland die 2008 ausgebrochene Banken- und Finanzkrise mit ihren drastischen Verheerungen auf die Gesamtwirtschaft des Landes hinter sich gelassen. Mit seinen jüngsten Wachstumsraten knüpft das Land zumindest statistisch wieder an die Erfolgsgeschichte des „keltischen Tigers“ an, womit es in den 1990er Jahren seinen Status als Armenhaus Westeuropas hinter sich gelassen hat. Und doch ist vor allem in den Ballungszentren die Not sichtbar, die sich weniger in fehlenden Arbeitsplätzen äußert, sondern in einem grassierenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum.
Der Hauskauf ist für jüngere Menschen unerschwinglich geworden. Zu steigenden Mieten kommt die Inflation, die es kaum erlaubt, Erspartes zur Seite zu legen. Betrug 2010 die durchschnittliche Miete innerhalb Dublins 979 Euro (außerhalb: 626 Euro), so stieg sie bis 2021 auf 1.916 Euro (1.114 Euro). Die Obdachlosigkeit nimmt zu, manch Betroffene übernachten bei Freunden („Couchsurfing“), im eigenen Auto oder bleiben weiterhin im Elternhaus. Generation „Locked-out – Ausgesperrt“, von einem Leben in den eigenen vier Wänden mit dazugehöriger eigener Familie. Die Irish Times verglich die Jagd nach Wohnungen mit den „Hunger Games – Hungerspielen“, der Filmreihe über eine dystopische Zukunft, in der verschiedene Gruppen sich ein tödliches Spiel mit nur einem Gewinner liefern.
Mehrere Ursachen liegen dieser Krise zugrunde. Zum einen zog sich bereits in den 1990er Jahren der irische Staat unter dem Einfluß des Neoliberalismus aus dem sozialen Wohnungsbau zurück. Private Marktteilnehmer sollten allein regeln, wo der Staat seit der Unabhängigkeit 1922 erfolgreich involviert war. In der politischen Elite vollzog sich ein Mentalitätswechsel, indem man den Wohnraum mehr als Ware, denn als soziales Bedürfnis ansah. Doch als krisenverschärfend erwies sich die Einladung an globale institutionelle Anleger durch die staatliche Behörde NAMA (National Asset Management Agency), die als „Bad Bank“ die toxischen Kredite aus der Finanzkrise verwaltete, auf dem irischen Immobilienmarkt tätig zu werden.
Die sozialen Konflikte drohen zunehmend zu eskalieren
Gleichzeitig sorgt die zunehmende Migration, nicht allein durch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, für einen anhaltenden Nachfrageschub am Wohnungsmarkt. Die aggressiven Proteste und Übergriffe von Anwohnern allein in Dublin und Cork gegenüber Migranten zeigen nur allzu deutlich, daß die „Hungerspiele“ auf ein heißeres Szenario zuzulaufen drohen.
Im März endete das im Oktober 2022 erlassene Räumungsverbot, das Mietern einen gewissen Schutz vor Räumung bot, solange sie nicht wegen Mietzahlungsausfällen oder verhaltensbedingt negativ auffielen. In Irland sind die Schutzrechte von Mietern ohnehin weit unter dem Standard im übrigen Europa. Weit verbreitet sind die Befürchtungen über die Auswirkungen auf das Leben ganz gewöhnlicher Menschen, die kaum Alternativen auf einem überhitzten Wohnungsmarkt haben. Es ist keine Kleinigkeit bei einem Volk, in welchem die historische Erfahrung der willkürlichen Vertreibung aus ihren Häusern durch britische Grundherren tiefverwurzelte Ängste im kollektiven Bewußtsein hinterlassen hat.
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