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Berichte und Bilder zum Nordirlandkonflikt

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Über den eigenen Schatten gesprungen

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Über den eigenen Schatten gesprungen
Irland: Auf dem Weg zur Regierungsbildung überwinden die Staatsparteien Fianna Fail und Fine Gael ihren alten Gegensatz
Daniel Körtel

Dem auch in Irland geltenden sozialen Abstandsgebot zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zum Trotz sind sich die nationalkonservative Fianna Fail (FF; „Soldaten des Schicksals“) und die bürgerliche Fine Gael (FG; „Familie der Iren“) auf dem Weg zur Regierungsbildung auf einer entscheidenden historischen Stufe näher gekommen. Nun veröffentlichten beide Parteien ein Grundsatzpapier, das die Rahmenbedingungen für eine Große Koalition festlegt. Die wichtigsten Punkte darin betreffen eine Reform des maroden Gesundheitssystems, die Kindesfürsorge, bezahlbaren Wohnraum, die Einführung eines Existenzminimums, die Klimapolitik und vor allem die Bewältigung der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen Folgen.

Erreicht werden sollen diese Ziele ohne eine Rückkehr zur harten Sparpolitik, mit der die zurückliegende Wirtschafts- und Finanzkrise bekämpft wurde. Ebenso sollen die Sozialhilfesätze nicht beschnitten, die Einkommenssteuer nicht erhöht und höhere Aufwendungen durch Kredite finanziert werden.

Da jedoch beide Partner in der Parlamentswahl vom vergangenen Februar nicht genug Stimmen auf sich vereinigen konnten, um die absolute Mehrheit von 80 Sitzen zu erreichen, ist das Papier hinsichtlich der Kosten und Details weitgehend offen und gespickt mit Lockangeboten, mit denen kleinere Parteien wie die Grünen, Social Democrats oder Labour sowie einige unabhängige Abgeordnete für den Eintritt in die kleine Große Koalition gewonnen werden sollen. Als die mit 38 Sitzen stärkste Partei – gegenüber den 35 der FG – kann der FF-Vorsitzende Micheál Martin voraussichtlich den noch amtierenden Ministerpräsidenten Leo Varadkar (FG) ablösen.

Die Große Koalition wäre für Irland ein vollkommen neues politisches Experiment. „Civil War politics“ ist der Inbegriff jenes scheinbar unüberwindlichen Gegensatzes zwischen FF und FG, der seit fast 100 Jahren die irische Politik bestimmt. In ihm schieden sich Befürworter und Gegner des anglo-irischen Vertrages, der 1922 Irland als Freistaat in die Unabhängigkeit entließ. Die neugewonnene Freiheit war aber an gewisse Zugeständnisse gegenüber Großbritannien geknüpft, so den Treueeid zur Krone, britische Marinebasen und vor allem die als besonders schmerzhaft empfundene Abtrennung des protestantischen Nordirlands. Es folgte ein Bürgerkrieg, worauf sich ein Jahr danach die Vertragsbefürworter durchsetzten, die später die FG gründeten, während sich die Verlierer in der FF sammelten. Seitdem bestimmten beide Parteien abwechselnd die Geschicke des Landes.

Das Ergebnis der letzten Parlamentswahl hat dieser traditionellen Machtbalance aus arithmetischen Gründen jedoch die Grundlage entzogen. Weder FF noch FG sind stark genug, eine Regierung zu bilden. Erschwerend kommt hinzu, daß die linksnationalistische Sinn Féin („Wir selbst“; SF) mit 37 Sitzen einen historischen Erfolg verbuchen konnte, der die FF und FG erst deklassierte. So ist der gemeinsame Wille von FF und FG vor allem von dem Konsens getragen, die SF als früheren politischen Arm der Terrororganisation IRA aus jeder möglichen Regierungsbildung herauszuhalten. Im Schatten der Corona-Krise fiel das öffentliche Echo verhalten aus. Lediglich in der FF wird innerparteilicher Widerstand erwartet.

Zurückhaltend hingegen waren die Reaktionen der kleineren Wunschpartner. Ihr Gesprächsbedarf über die Klärung der noch ausstehenden Details ist daher groß.

Der Macht so nah und doch so fern

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Der Macht so nah und doch so fern
Irland nach der historischen Parlamentswahl: Regierungsbildung wird problematisch
Daniel Körtel

Kaum einen dürfte der sensationelle Wahlsieg der Sinn Féin (SF, Wir selbst) bei den irischen Parlamentswahlen bitterer aufgestoßen sein als den Eheleuten Stephen und Breege Quinn. Als sich im Wahlkampf der unerwartete Aufstieg der linksnationalistischen Partei abzeichnete, gingen sie in die Öffentlichkeit, um auf den nach wie vor unaufgeklärten Mord an ihrem Sohn Paul im Jahr 2007 aufmerksam zu machen. Paul (21) wurde damals auf einer Farm im nordirischen Armagh so grausam zugerichtet, daß er an seinen Verletzungen verstarb. Der Schlägertrupp kam offenbar aus Kreisen der Terrororganisation IRA.

Für anhaltende Empörung sorgte die seinerzeitige Behauptung des früheren IRA-Kämpfers und heutigen nordirischen SF-Finanzministers Conor Murphy, Paul sei in Schmuggel und Kriminalität verwickelt gewesen.

Die Grünen werden sich teuer verkaufen

Der Aufforderung der Quinns an den in der IRA-Szene bestens vernetzten Murphy, seine Äußerungen zurückzunehmen und sein Wissen um den Mord an die Polizei weiterzugeben, ist er aus ihrer Sicht nur unzureichend nachgekommen, was wiederum die SF unter Druck setzte.

Der Fall Paul Quinn erweitert so die historische Parlamentswahl um eine menschliche Komponente, die ihrer Bedeutung noch stärkere Konturen verleiht. Von ihren Konkurrenten ausgegrenzt, spielte die Partei über viele Jahrzehnte als politischer Arm der IRA nur eine Nebenrolle in der irischen Republik, während sie in Nordirland zur stärksten Kraft im irisch-nationalistischen Lager aufstieg. Zusätzlich machte sie ihre ungeklärte Haltung zur oftmals mit Paramilitärs verwobenen organisierten Kriminalität für jede Zusammenarbeit ungenießbar. Dennoch hat sie seit dem Karfreitagsabkommen von 1998, das den Bürgerkrieg in Nordirland offiziell beendete, auch in der Republik ihren Wähleranteil stetig ausbauen können.

Doch nun hat auch Irland jener Trend in den westeuropäischen Staaten eingeholt, wonach die bislang starke Mitte durch Druck von den Rändern sich zugunsten eines breiter aufgefächerten Parteiensystems aufsplittert. Noch vor 40 Jahren teilten sich die nationalkonservative Fianna Fáil (FF, Soldaten des Schicksals) und die bürgerliche Fine Gael (FG, Familie der Iren) vier Fünftel der Wählerstimmen und wechselten in der Regierung einander ab. Diese Arithmetik geht seit dem 8. Februar nicht mehr auf. Seitdem stehen sich drei etwa gleich starke Parteien gegenüber, die aus der SF mit 24,53 Prozent, der FF mit 22,18 Prozent und der bisherigen Regierungspartei FG mit 20,86 Prozent bestehen.

Der Schub für die SF kam vor allem von jungen Wählern, die keine Verbindung aus eigenem Erleben zu der Vergangenheit des nordirischen Bürgerkrieges mehr haben. Sie fühlen sich aktuell bedrängt von der Wohnungskrise und sehen in eine trübe Zukunft, in der sie durch hohe Mieten trotz guter Ausbildung nie zu einem Eigenheim kommen werden.

Letztlich wurde der Wunsch nach Wandel befördert durch die mangelnde Glaubwürdigkeit der FG, die in neun Jahren an der Macht die Probleme nicht in den Griff bekam, und der FF, der man die Verantwortung für die letzte Wirtschaftskrise nicht vergessen hat.

Die Regierungsbildung gestaltet sich schwierig. Nach seiner ersten Sitzung in der vorigen Woche vertagte sich das neue Parlament für zwei Wochen, um der Regierungsbildung weiter Zeit zu geben. Der Versuch der SF-Vorsitzenden Mary Lou McDonald, eine von ihr präferierte Links-Koalition mit den kleineren Parteien wie den Grünen, Labour, radikalen Linken und unabhängigen Abgeordneten zu bilden, ist mangels Masse schon im Ansatz gescheitert, zumal Labour sich für den Gang in die Opposition entschied.

Eine Verbindung mit der FF erscheint aussichtslos, nachdem ihr Vorsitzender Micheál Martin in der ersten Parlamentssitzung schwere Angriffe gegen die SF wegen ihrer Vergangenheit und ihrer umstrittenen politischen Kultur gefahren hat.

Die wahrscheinlichste Option ist die einer großen Koalition aus FF und der FG unter Einschluß der Grünen, die ihre Stimmen teuer verkaufen dürften. Martins Angriffe gegen die SF könnten aus dem strategischen Kalkül heraus erfolgt sein, dieser in FF und in FG ungeliebten Variante den Boden zu bereiten, die in der irischen Geschichte ein neues Experiment wäre. Ihn begünstigte zusätzlich die Stellungnahme des irischen Polizeichefs, wonach die SF nach wie vor vom Führungsgremium der IRA überwacht werde. McDonald hingegen wies dies zurück; die IRA sei „von der Bühne abgetreten“.

Für diese Woche sind erste Sondierungsgespräche zwischen Martin und dem amtierenden Ministerpräsidenten Leo Varadkar (FG) angesetzt.

Wahlgeschenke jetzt – die Rechnung kommt später

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Wahlgeschenke jetzt – die Rechnung kommt später
Irland: Bei den kommenden Parlamentswahlen deutet sich ein Machtwechsel an / Linksnationalisten auf dem Vormarsch
Daniel Körtel

Kaum war nach den britischen Parlamentswahlen im vergangenen Dezember der Brexit fest terminiert und in der britischen Provinz Nordirland eine neue Regionalregierung installiert, kam auch Bewegung in die irische Innenpolitik.

Der Burgfrieden durch das Kooperationsabkommen der regierenden bürgerlichen Fine Gael (FG; Familie der Iren) mit der nationalkonservativen Fianna Fail (FF; Soldaten des Schicksals) und einer Reihe unabhängiger Abgeordneter, das der irischen Regierung eine stabile Basis in den Brexit-Verhandlungen der EU gab, wurde Mitte Januar nach knapp vier Jahren auf Initiative von Ministerpräsident Leo Varadkar durch Ausrufung von Neuwahlen am kommenden Samstag aufgehoben.

Doch Varadkars Kalkül, die irischen Wähler würden ihm die wirtschaftliche Erholung des Landes und seine beharrliche Verteidigung irischer Interessen in den Brexit-Verhandlungen in bezug auf die bislang offene Grenze mit Nordirland honorieren, scheint nicht aufzugehen.

Erstaunlicherweise war es sein ungeschicktes Handeln auf dem Gebiet der Geschichtspolitik, das ihn erste Sympathiepunkte kostete. Eine für Januar geplante und schließlich bis auf weiteres verschobene Zeremonie zum Gedenken an Polizeibeamte, die im Unabhängigkeitskrieg vor einhundert Jahren im Kampf gegen die irischen Freiheitskämpfer fielen, geriet zum öffentlichen Debakel. Auch sonst hängen die ungelösten Probleme der seit neun Jahren in der Regierungsverantwortung stehenden FG wie Mühlsteine um den Hals.

Die Grünen können auf ein Comeback hoffen

Drogenkriminalität, Rentenentwicklung, aber vor allem die katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen und die besonders im Ballungsraum der irischen Hauptstadt Dublin grassierende Wohnungsnot brennen den Wählern auf den Nägeln.

Die Meinungsumfragen sehen trübe aus für die FG. Sie fällt mit 21 Prozent auf den dritten Platz, während sich mit jeweils 24 Prozent die oppositionelle FF mit der deutlich aufsteigenden linksnationalistischen Sinn Féin (SF; Wir selbst) ein überraschendes Rennen um die vorderste Position liefert.

Ein kleines Comeback gelingt offenbar im Zuge der Klimadebatte den bislang in der Versenkung verschwundenen Grünen, die auf sieben Prozent kommen. Mit fünf Prozent ist Labour nur noch ein Schatten einstiger Größe.

Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob FG oder FF nach der Wahl eine Regierungsbildung aus eigener Kraft gelingen wird, zumal beide kategorisch eine Koalition mit der SF ausgeschlossen haben. Die SF hat aufgrund ihrer Vergangenheit als politischer Arm der Terrororganisation IRA (Irisch-Republikanische Armee) und ihrer ungeklärten Haltung zur Kriminalität den Status eines Parias im irischen Parteiensystem.

Dennoch punktet die SF mit ihrer populären Vorsitzenden Mary Lou MacDonald und einem Programm, das mit üppigen Staatsausgaben und höheren Steuern für die Besserverdiener und Banken wirbt sowie einem Referendum über die Wiedervereinigung mit Nordirland.

Die Konkurrenz versucht ihrerseits mit großzügigen Wahlgeschenken aus milliardenschweren Ausgaben bei gleichzeitigen Steuersenkungen aufzuholen.

Gespannte Unsicherheit

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

Gespannte Unsicherheit
Nordirland, der Brexit und die Grenzfrage: Angst vor der Rückkehr der konfessionell-nationalen Gewalt
Daniel Körtel

Die vielleicht kurioseste Blüte, die der anstehende Brexit treibt, findet sich in der nordirischen Kleinstadt Enniskillen, nicht weit entfernt von der Grenze zur Republik Irland. Dort an dem Platz, wo auch das Kriegsdenkmal steht, an dem die IRA 1987 mit elf Toten einen ihrer schwersten Anschläge im Bürgerkrieg verübte, bietet die Fleischerei O’Doherty’s mit dem „Brexit Burger“ eine besondere Delikatesse an.

Die rohe Bulette wird an dem Schaufensteraushang des Geschäftes beworben als „ein Burger, der den Brexit so reflektiert wie er vom allgemeinen Volk gesehen wird“. Er sei „ein verrückter Burger, der aus genauso vielen Zutaten gemacht wird, so wie der Brexit ein verrückt zusammengemixter Prozeß ist“. Man wisse nicht, wie er schmecke, so wie man vom Brexit nicht das Endergebnis kenne: „Einmal gegessen könnte er nicht so schlimm schmecken oder möglicherweise schrecklich, so wie es beim Brexit nicht so schlimm oder möglicherweise schrecklich wird.“

Nordiren stimmten gegen den Brexit

Darauf angesprochen, erklärt die Verkäuferin hinter dem Tresen, daß dieses Produkt bei den Kunden gut ankomme. Niemand wisse, was nach dem 31. Oktober dieses Jahres, dem Datum, an dem der britische Premier Boris Johnson den Brexit durchziehen will, auf das Land zukomme. Vor allem treibe alle die Sorge um die mögliche Einführung einer harten Grenze mit Kontrollen und Schlagbäumen um, was vor allem die Geschäftsbeziehungen zum Süden einbrechen lassen werde. Allerdings sehe sie wiederum keinen Anlaß für Katastrophenszenarien.

Gespannte Unsicherheit und Ratlosigkeit begegnet dem Besucher, wenn er Nordiren nach ihren Erwartungen zum Brexit befragt. Beim Stichwort der harten Grenze ruft ein Museumsführer im grenznahen Armagh sarkastisch die Vergangenheit in Erinnerung: „Soll das so werden wie früher, als die Grenzbeamten von der IRA angegriffen wurden, so daß sie von der Polizei beschützt werden mußten und diese ihrerseits wiederum von der Armee?“

Doch noch ist es nicht soweit. Kein Schild weist darauf hin, wenn man auf der irischen Insel die bislang unsichtbare und reibungslose Grenze zwischen der Republik und der britischen Provinz überschreitet. Erst die sich ändernden Autokennzeichen beziehungsweise die vielfach mit britischen Wimpeln beflaggte Häuser der nordirischen Grenzorte signalisieren, wo man sich gerade befindet. Aber selbst die unterschiedlichen Währungen des Euros und des britischen Pfunds werden in vielen Geschäften wechselseitig akzeptiert.

Die unsichtbare Grenze im gemeinsamen EU-Raum mit Binnenmarkt, Zollunion und grenzüberschreitenden Institutionen ist ein wesentliches mentales Element der Friedensordnung zwischen den nordirischen Konfliktparteien, die sich seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 etabliert hat. Dem irischen Wirtschaftshistoriker Kevin O’Rourke zufolge „war die Eliminierung der Grenzkontrollen entscheidend, welche wiederum es für nordirische Nationalisten leichter machte, eine Lösung zu akzeptieren, in welcher sie noch Einwohner (aber nicht notwendigerweise Bürger) des Vereinigten Königreichs waren.“ Und es ist der EU durchaus als Verdienst anzurechnen, daß sie seit 1973 den damals noch der EG beigetretenen Neumitgliedern Irland und Großbritannien einen Rahmen bot, in dem auf politischer Ebene ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht geknüpft werden konnte, auf dem der spätere Friedensprozeß in Nordirland aufbauen konnte. So ist es kaum verwunderlich, daß in Nordirland im EU-Referendum vom Juni 2016 eine deutliche Mehrheit von 55,8 Prozent für einen Verbleib in der EU gestimmt hat.

Die Gefahr besteht nun, daß mit der Entstehung einer neuen Grenze die Rückkehr der konfessionell-nationalen Gewalt einhergeht. Allerdings erscheint es äußerst unwahrscheinlich, daß diese auf das Niveau früherer unseliger Zeiten steigt.

Ein Indiz hierfür war im August die diesjährige traditionelle Parade der protestantischen Apprentice Boys im nordirischen Grenzort Derry (Londonderry). Die durchaus beeindruckende Anzahl der geradezu bieder auftretenden Spielmannszüge lockte indes nur wenige Zuschauer an.

Auch die auf der Rückseite mancher Hemden aufgedruckte, an Martin Luther angelehnte Parole „Here we stand – We can’t do other“ („Hier stehen wir, wir können nicht anders“) kann ebensowenig wie das kleine Grüppchen nationalistischer Gegendemonstranten darüber hinwegtäuschen, daß an diesem Tag das eigentliche Leben in den beliebten Einkaufszentren der Stadt stattfindet.

Es ist heute kaum zu glauben, daß es vor genau fünfzig Jahren dieser Anlaß war, der den Ausbruch der „Troubles“, den fast 30jährigen Bürgerkrieg herbeiführte, als zwischen 15.000 Apprentice Boys und den Bewohnern der katholischen Siedlung Bogside die Gewalt explodierte.

Dennoch bereitet die wachsende Sympathie für die paramilitärischen Dissidentengruppen Sorge, die keine Schwierigkeiten haben, unter der sozial deprivierten Jugend Nachwuchs zu rekrutieren. Dem entgegen kämpft der reformierte Polizeidienst PSNI um das Vertrauen der katholischen Bevölkerungsgruppe, die sich gerade in den vielfach von Mauern getrennten Konfliktzonen zwischen den Konfessionen bei Problemen mit Kriminellen oft an die Paramilitärs wendet, die in Selbstjustiz zur Problemlösung nach wie vor brutale Praktiken wie Knieschüsse anwenden. Auch ist unter Katholiken die Überzeugung weit verbreitet, daß Premier Johnson entgegen seinen Versprechungen eine harte Grenze einführen wird.

Irland will Grenze offenhalten

In den Brexit-Verhandlungen ist die Grenzfrage nach wie vor ungeklärt und von entscheidender Bedeutung für den Abschluß eines Brexit-Abkommens. Als vorläufiger Entwurf gilt die Backstop-Regelung, wonach Großbritannien auch nach dem Austritt aus der EU über einen bestimmten Stichtag hinaus weiterhin Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion bliebe, falls bis dahin keine anderweitige Regelung getroffen werde. Somit wäre eine harte Grenze vorläufig überflüssig.

Dieser Vorschlag wird jedoch von britischer Seite vehement abgelehnt, vor allem befeuert durch die nordirische Protestanten-Partei DUP, den Koalitionspartner der regierendenden Tories. Bislang gelang es London nicht, in dieser Frage die Phalanx der EU-Mitgliedsstaaten aufzubrechen, die fest hinter Irlands Forderung nach einer über den Brexit hinaus soften Grenze stehen.

Unterdessen hat am vergangenen Sonntag die Vorsitzende der DUP, Arlene Foster, jedem Kompromiß, der Nordirland in irgendeiner Weise aus der Zollunion mit Großbritannien herauslöst, eine Absage erteilt. Sie sei zwar offen für einen zeitlich beschränkten Backstop, aber Irlands Ministerpräsident Leo Varadkar habe diese Möglichkeit schon ausgeschlagen. Die britische Seite, deren Alternativvorschläge für Ende dieser Woche erwartet werden, bekräftigte erneut, daß sie den Backstop als solches vom Tisch haben wolle.

Londons Brexit-Unterhändler Stephen Barclay beharrt weiterhin auf einer Verschiebung der Klärung der Grenzfrage bis zum Ende der Übergangsphase für einen geregelten Brexit. Doch noch ist offen, ob aus dieser Sackgasse heraus bis Ende Oktober überhaupt ein Abkommen ausgehandelt werden kann und so doch ein harter Brexit eintritt. In diesem Fall warnte Barclay, daß Großbritannien nicht alleine darunter leiden werde.

Keine Stimme für die ungeborenen Kinder

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Keine Stimme für die ungeborenen Kinder
Nordirland: Durch die Hintertür versucht das britische Parlament in Nordirland ein liberales Abtreibungsrecht durchzusetzen
Daniel Körtel

Nach dem überwältigenden Votum der Iren in dem Referendum vom Mai 2018 zugunsten einer Abschaffung des Abtreibungsverbotes machten Pro Choice-Aktivisten klar, daß sie diesen Sieg nur als eine Zwischenstation ansahen auf dem Weg zu einer Freigabe der Abtreibung auf der gesamten Insel. Also auch in der britischen Provinz Nordirland, wo abgetrennt von den liberalen Regelungen im übrigen Königreich, ein rigides Abtreibungsverbot besteht, das bis in die viktorianische Ära zurückreicht.

Demnach kann eine Schwangere nur dann eine Abtreibung ihres ungeborenen Kindes durchführen, wenn sie durch die Schwangerschaft ihr Leben riskiert oder ihr dadurch langfristige oder dauerhafte geistige und körperliche Schäden drohen. Nicht gestattet ist Abtreibung im Falle von Vergewaltigung, Inzest oder fetalen Mißbildungen.

Vermutlich schneller als erwartet stehen die Abtreibungsbefürworter auch in Nordirland kurz vor ihrem Sieg. Kurioserweise ist es die politische Sackgasse, in die sich die nordirischen Parteien seit der Regionalwahl vom März 2017 verrannt haben. Auch mehr als zwei Jahre später konnte die gegenseitige Blockade der beiden größten Parteien, der irisch-nationalistischen Sinn Fein und der pro-britischen DUP (Democratic Unionist Party) nicht behoben werden, um so eine gemäß den Regelungen des Karfreitagsabkommens von 1998 entsprechende Allparteienregierung einzusetzen.

Im Juli passierte ein Gesetz das Parlament in London, das der britischen Regierung die Pflicht auferlegt, Regelungen für Nordirland zu treffen hinsichtlich der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und einer Liberalisierung der Abtreibung. Dieses Gesetz tritt in Kraft, wenn das nordirische Parlament und die Allparteienregierung nicht bis zum 21. Oktober wiederhergestellt sind.

Damit wäre die Klärung einer komplexen Frage auf Leben und Tod außerhalb der Souveränität der nordirischen Regionalversammlung gestellt. Die zuletzt amtierende Ministerpräsidentin Nordirlands, Arlene Foster, nannte das Gesetz „heimtückisch“ und bekräftigte die ablehnende Haltung ihrer sozialkonservativen DUP. Sie fürchtet zusammen mit Lebensrechtlern, daß sogar eine Fristenregelung bis zur 28. Schwangerschaftswoche eingeführt werden könnte. Dies lehnt die linksgerichtete Sinn Fein jedoch ab.

Obgleich Umfragen nahelegen, daß eine Mehrheit der Nordiren eine Lockerung des strengen Abtreibungsgesetzes befürwortet, versammelten sich am vergangenen Freitagabend Tausende Abtreibungsgegner vor dem nordirischen Parlamentssitz. Bewußt in dunkler Kleidung erhoben sie die leuchtenden Taschenlampen ihrer Smartphones zum Protest: „Unsere Stille spricht Bände. Wir werden nicht gefragt, und die ungeborenen Kinder haben keine Stimme.“

Der Beginn eines dreißigjährigen Bürgerkriegs

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Der Beginn eines dreißigjährigen Bürgerkriegs
Mit der „Schlacht um die Bogside“ 1969 erreichte der Konflikt von Protestanten und Katholiken in Nordirland die Ebene der Gewalt
Daniel Körtel

Der Tod der jungen Journalistin Lyra McKee während Ausschreitungen in Londonderry im vergangenen April rief für einen Augenblick die Ungeister Nordirlands, dem „Kosovo Großbritanniens“, in Erinnerung. Kurz bevor sie die Kugel eines mutmaßlichen Schützen der republikanischen Dissidentengruppe New IRA traf, twitterte sie über die Lage vor Ort: „Derry tonight. Absolute madness.“

Der tragische Tod McKees geschah am gleichen Ort, an dem sich vor fünfzig Jahren die konfessionell-nationalen Gegensätze zwischen pro-irischen Katholiken und den loyal zur Union mit Großbritannien stehenden Protestanten zu einem explosiven Gewaltausbruch verdichteten.

Die Vorgeschichte zu dem Drama ist geradezu beispielhaft für ein oft wiederkehrendes Muster in der Geschichte, wo Reformer in bester Absicht verkrustete Verhältnisse aufzubrechen versuchten und dabei eine Dynamik in Gang setzten, die sie und das System, das sie zu erhalten trachteten, am Ende hinwegfegte.

Vermehrte Signale für eine Tauwetterperiode

1963 in das Amt des Premierministers gekommen, wagte der Unionist Terence O’Neill eine vorsichtige Öffnung gegenüber der benachteiligten katholischen Minderheit. O’Neill erkannte, daß eine ökonomische Modernisierung des protestantisch dominierten Landes, dessen Werften- und Textilindustrien im Niedergang begriffen waren, nicht ohne die gleichberechtigte Teilhabe der Katholiken zu erreichen war. O’Neill verband mit seinem Kurs die Hoffnung, mit einer Verbesserung ihrer Lage die Loyalität der Katholiken für die Union mit Großbritannien gewinnen zu können.

O’Neills Pläne fügten sich perfekt in den Zeitgeist der sechziger Jahre ein, ein Jahrzehnt, das an seinem Beginn erfüllt war vom Fortschrittsoptimismus der technischen Machbarkeit und politisch-gesellschaftlichem Aufbruch. Von den USA wirkte die Bürgerrechtsbewegung auf viele inspirierend. Zu den als spießig und als überkommen verworfenen Werten und Traditionen ihrer Eltern etablierten sich in den westlichen Staaten alternative Gegenkulturen. Und selbst die katholische Kirche wagte mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Weg in eine neue Moderne. Doch von all den Hoffnungen blieb am Ende des Jahrzehnts nicht mehr viel übrig. So auch in Nordirland.

Bereits die Einladung an seinen Amtskollegen aus der Republik Irland, Sean Lemass, zu einem Besuch in Nord-irland lieferte 1965 ein spektakuläres Signal für die Tauwetterperiode, die O’Neill gegenüber der irisch-katholischen Minderheit einleitete. Dennoch unterblieben strukturelle und politische Reformen. Katholiken sahen sich weiterhin bei der Vergabe kommunaler Wohnungen benachteiligt, bei Wahlen durch den Zuschnitt der Wahlkreise und dem Zensuswahlrecht sowie durch den Special Power Act, der der Regierung besondere Vollmachten zur Durchsetzung von Recht und Ordnung gab.

Doch so konnte O’Neill die Erwartungen der Katholiken nicht erfüllen. Auf der anderen Seite überforderte O’Neill die Protestanten, die um den Status ihrer Provinz fürchteten. Besonders der rabiate Protestanten-Prediger Ian Paisley trieb mit seiner scharfen Rhetorik den Premier vor sich her.

Als katholische Bürgerrechtler am 5. Oktober 1968 einen Protestmarsch nach Londonderry organisierten, kam es zum ersten ernsthaften Zusammenstoß mit der Staatsmacht. Beamte des Polizeidienstes RUC schlugen die Demonstranten mit ihren Knüppeln nieder. Die mediale Wirkung des vor laufenden Kameras vollzogenen Einsatzes war für die nordirische Regierung verheerend und für die Bürgerrechtsbewegung ein gewaltiger Propagandasieg, der ihr weiteren Auftrieb gab. Auf steigenden Druck aus London hin, wo der britische Labour-Premier Harold Wilson mit der Sache der Katholiken sympathisierte, entschloß sich O’Neill zu politischen Reformen, die aber noch zu entfernt von britischen Standards waren – zu spät und zu kurz gegriffen, um noch Wirkung zu entfalten.

Gegenseitige Provokationen durch Protestmärsche

In einer dramatischen Rede warnte O’Neill, daß das Land davor stehe, ins Chaos zu versinken. Sollte es der Regierung nicht gelingen, die Probleme in den Griff zu bekommen, drohe die Gefahr, daß London über die Köpfe der Nordiren hinweg entscheide. Die öffentliche Unterstützung nach der Rede war groß, doch die für Februar 1969 anberaumten Neuwahlen zeigten eine innerparteiliche Zersplitterung von O’Neills Unionisten in Anhänger und Gegner seines Kurses. Eine Reihe von Bombenanschlägen auf öffentliche Einrichtungen und Gebäude, die anfangs der Irisch-Republikanischen Armee IRA zugeschrieben wurden, besiegelten das Ende des Premiers, der von seinem Amt zurücktrat. Später stellte sich die Urheberschaft der Protestanten-Miliz UVF heraus, die damit die Regierung zu destabilisieren suchte.

Zum Wendepunkt wurde der Sommer 1969, wenn durch die protestantische Paradesaison traditionell die politische Temperatur Nordirlands am höchsten steigt. Der Marsch von 15.000 Angehörigen der protestantischen Apprentice Boys am 12. August durch Londonderry führte zur Explosion der offenbar lange aufgestauten Gewalt. Durch Steinwürfe aus der katholischen Enklave Bogside provoziert, versuchte die RUC, gefolgt vom protestantischen Mob, die mit Barrikaden gesicherte Bogside zu stürmen. Ihre Bewohner waren nicht unvorbereitet und empfingen die unter CS-Gas anrückenden Beamten mit Wurfgeschossen aus Steinen und Benzinbomben. „The Battle of the Bogside“ – die Schlacht um die Bogside – war in vollem Gange.

Die RUC und die den Katholiken besonders verhaßte Sondereinsatzgruppe der B-Specials gerieten rasch an ihre Grenzen. Bürgerrechtler organisierten zur Entlastung an anderen Stellen Nordirlands Aufruhr. So auch in der Provinzhauptstadt Belfast, wo nebeneinander in dem katholischen Viertel Falls und dem protestantischen Shankill ein ohnehin konfliktträchtiges gemischt-konfessionelles Siedlungsmuster bestand. Als Brandbeschleuniger wirkte ein Fernsehauftritt des irischen Premiers Jack Lynch, der unter dem Eindruck der Ereignisse als einzige Lösung der Krise die Wiedervereinigung der Insel ansah, was Protestanten als Provokation auffassen mußten, Katholiken hingegen als Ermutigung.

Nach zwei Tagen Straßenschlachten und brennender Häuser rief O’Neills Nachfolger James Chichester-Clark London um Hilfe, das die britische Armee entsandte. Unter dem Jubel der protestantischen Bevölkerung zogen die Soldaten in die Konfliktgebiete ein und beendeten den Aufruhr. Die schreckliche Bilanz: Mindestens acht Tote, über 700 Verletzte, davon über 150 durch Schußwaffen. 170 Häuser wurden niedergebrannt, 1.800 Familien vertrieben. O’Neills Befürchtungen über die Zukunft eines Nordirlands der gewalttätigen Konflikte wurden Wirklichkeit. Der Bürgerkrieg hatte begonnen. Er sollte bis zu einem formellen Abschluß mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 noch fast dreißig Jahre dauern und etwa 3.500 Menschen das Leben kosten.

Nordirland-Konflikt

1919–1921

Irischer Unabhängigkeitskrieg. Er endet mit dem Anglo-Irischen Vertrag, der die Teilung des Landes in einen Freistaat, den Vorläufer der heutigen Republik Irland, und Nordirland vorsieht.

1922–1923

Irischer Bürgerkrieg zwischen Befürwortern und Gegnern des Vertrages

  1. Oktober 1968

Die britische Polizei in Nordirland, die Royal Ulster Constabulary (RUC), knüppelt Demonstranten eines zuvor verbotenen Protestmarschs katholischer Bürgerrechtler nieder.

  1. August 1969

Protestanten stürmen in Derry den katholischen Stadtteil Bogside. Die Straßenschlachten mit den Apprentice Boys of Derry, einer protestantischen Bruderschaft, und der nordirischen Polizei dauern zwei Tage.

1969–1998

Hochphase des Nordirlandskonflikts bis zum Waffenstillstand im sogenannten Karfreitagsabkommen.

Die untreuen Kinder des Papstes

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Die untreuen Kinder des Papstes
Irland: Bei seinem Besuch des Weltfamilientreffens stößt Papst Franziskus auf ein dem katholischen Glauben entfremdetes Land
Daniel Körtel

Es wird vermutlich die schwierigste Auslandsreise seiner bisherigen Amtszeit werden: Wenn Papst Franziskus am 25. August zu seinem Besuch in Irland eintrifft, dann wird er direkt mit einem Land konfrontiert, das seinen Ruf als „treueste Tochter der Kirche“ längst abgelegt hat.

Zwei einschneidende Referenden haben der Welt zuletzt vorgeführt, daß der Moralkodex der katholischen Kirche für die Iren nicht mehr maßgebend ist. 2015 stimmte eine deutliche Mehrheit der Iren für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und im vergangenen Mai sogar 66 Prozent für die Abschaffung des rigiden Abtreibungsverbots.

Die Reaktionen der Kirche auf den Siegesjubel der Gewinner des Referendums wirkten hilflos. Bischof Kevin Doran empfahl den Katholiken, die für die Abschaffung stimmten, zur Beichte zu gehen.

Wie zum Trotz bekannte daraufhin die frühere Staatspräsidentin Mary McAleese ihr überzeugtes Votum für die Aufhebung des Abtreibungsverbots und daß sie nicht vorhabe, deswegen zur Beichte zu gehen. Auch werde sie zu keiner der Veranstaltungen zum Papst-Besuch gehen. Sie nahm aber an der Dubliner „Pride Parade“ zum diesjährigen LGBTQ-Festival teil.

Schockierende Zustände in kirchlichen Heimen

In den Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1922 war in Irland der Status der katholischen Kirche unantastbar. Die Verfassung von 1937 garantierte ihre Sonderrolle als Vertreterin der Mehrheitsreligion und gab ihr somit Einfluß auf Bildungswesen, Kulturleben und Zensur. Das entsprach durchaus den Idealen der Gründungsväter für ein landwirtschaftlich geprägtes, autarkes und nach kirchlichen Moralvorstellungen geprägtes Irland: „Ein katholischer Staat für ein katholisches Volk“.

Ihren großen Einfluß auf die irische Gesellschaft konnte die Kirche noch bis in die 1980er Jahre behaupten, als 1986 per Referendum die Ehescheidung abgewehrt wurde. Den Beginn ihres Autoritätsverlustes markierte der Skandal um den hochangesehenen Bischof Eamon Casey. 1992 kam heraus, daß der Bischof aus einer Liaison mit einer Amerikanerin einen 18jährigen Sohn hatte, für dessen Unterhalt er Kirchengelder veruntreute. Weitere Enthüllungen um sittliche Verfehlungen und sexuellen Kindesmißbrauch durch Priester taten ihr Übriges.

Für Empörung sorgte zuletzt die Aufdeckung Jahrzehnte anhaltender, schockierender Zustände in kirchlichen Heimen für unehelich geschwängerte Frauen, in denen Nonnen die harte Bestrafung für den Verstoß gegen die katholische Sexualmoral über die christliche Pflicht zur Nächstenliebe stellten. Die Mütter mußten Zwangsarbeit leisten. Ihre Kinder wurden ihnen weggenommen und zur Adoption freigegeben. Hohe Todesraten unter den Säuglingen legen den Verdacht der Vernachlässigung und Unterernährung nahe.

Zwar sind die Mißstände in den zumeist ohnehin geschlossenen Heimen längst abgestellt, doch die laufende Aufarbeitung hält das Thema am Kochen.

Vordergründig sind es solche spektakulären Skandale, die den Niedergang der irischen katholischen Kirche bewirkten. Doch darüber hinaus lohnt es sich auch, den tieferen sozialen Ursachen der Auflösung der traditionellen Bindungen im gesellschaftlichen Gefüge Irlands nachzuspüren. Allein der Mentalitätswandel innerhalb nur einer Generation bewirkte eine Unterminierung der Kirche.

Priestermangel auf hohem Niveau

Papst Franziskus wandelt in den Fußstapfen seines reisefreudigen Vor-Vorgängers Johannes Paul II. Dessen Irland-Visite im September 1979 geriet zum Triumphzug, der fast das gesamte Land mitriß. Allein eine Million Besucher nahmen an der Messe des Papstes im Dubliner Phoenix-Park teil. Das erstaunliche Ergebnis dieser nationalen Euphorie zeigte sich neun Monate später im Juni 1980 in der Geburtenstatistik: 74.000 Babys bildeten die deutliche Spitze eines Babybooms, der sich seit den 1970er Jahren erhob.

Der irische Starökonom David McWilliams erkannte 2005 als erster diesen Zusammenhang und popularisierte diese Generation von rund 620.000 Neugeborenen in einem gleichnamigen Bestseller als „The Pope’s Children“ („Die Kinder des Papstes“). Sie ist von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes. In Verbindung mit den schmerzhaften Strukturreformen der späten 1980er Jahre beförderte sie gut qualifiziert und hochmotiviert als „kreativer Dynamo“ Irland vom kranken Mann am Rand Europas zum Wirtschaftswunder des „Keltischen Tigers“.

Das steigende Wirtschaftswachstum beendete die Emigration des jungen Potentials und brachte die Bevölkerungszahl 1993 auf einen Höchststand von 3,8 Millionen Einwohnern.

Nicht nur ökonomisch, auch kulturell öffnete sich damals das 1973 in die Europäische Gemeinschaft eingetretene Land äußeren Einflüssen. Mit dieser Modernisierung erfüllten sich aber auch die früheren Befürchtungen christlicher Stimmen, was eintreten würde, wenn das Land wohlhabender und industrialisiert würde. So wie der Reichtum an die Stelle der bisherigen Armut trat, so verdrängten Materialismus, Werterelativismus und Individualismus den Anspruch auf eine geistig-spirituelle Ausrichtung der Nation.

Die Sitten lockerten sich, die traditionelle Familie wurde zum Auslaufmodell: Die Zahl außerehelicher Geburten stieg deutlich an. Frauen stellten das Streben nach beruflicher Karriere über die Heirat. 1995 entschied eine knappe Mehrheit für die Einführung einer gesetzlichen Ehescheidung. Die Krise im religiösen Leben Irlands zeigte im gleichen Jahr der drastische Tiefstand von lediglich 111 Priesterberufungen gegenüber 1.409 im Jahr 1966.

Die Schwierigkeiten, auf die die Seelsorger kaum vorbereitet waren, beschrieb unlängst Erzbischof Eamon Martin in einer Rückschau. Er habe sich oft gefragt, ob irgendeine Art von priesterlichem „Training“ ihn vollständig auf das vorbereiten konnte, was jeweils vor ihm lag. Martin nannte die „schrecklichen und schockierenden“ Kindesmißbrauchsskandale; die Herausforderungen einer Säkularisierungswelle; die digitale Revolution und die Ankunft des Internets und der sozialen Medien; die gesellschaftliche Tendenz zu grassierendem Konsumismus, Individualismus und Relativismus; der Kampf um ein zölibatäres Leben in einer hypersexualisierten Kultur.

Die Situation hat sich seitdem nicht gebessert. Wenn die Attraktivität der Priesterlaufbahn ein Indikator für den Zustand der Kirche ist, dann ist er in Irland dramatisch: Im vergangenen Jahr fiel die Zahl der Einsteiger im Priesterseminar am St. Patrick’s College Maynooth auf ein historisches Rekordtief von sechs Seminaristen – von insgesamt 41 – seit ihrer Gründung 1795.

Die Not trieb manchen zurück in die Kirche

Der Konsumrausch beförderte eine Immobilienblase, die 2008 krachend platzte. Mit Sarkasmus merkte der Analyst McWilliams an, daß die Fütterung dieser Blase – dank der europäischen Einheitswährung – vor allem durch deutsche Bankenkredite erfolgte aus den Ersparnissen der älteren und gutverdienenden Generationen, die erst durch ihre überwiegende Kinderlosigkeit hohe Anlagen bilden konnten – deutsches Kapital kinderloser Renten- und Pensionsanwärter auf Renditesuche traf die junge irische Gier nach höchstem Wohlstand auf Kredit.

Die Not der anschließenden Rezession lehrte vielleicht manche Iren wieder das Beten, aber an die zerrissenen Bindungen zur Kirche ließ sich nicht wieder neu anknüpfen. Der europäische Trend zur Säkularisierung, den Irland mit Verspätung im Eiltempo nachholte, ließ sich nicht mehr umkehren.

Anlaß der Papst-Visite ist das diesjährige Weltfamilientreffen in Dublin, das 1993 erstmals auf Initiative des Papstes in Rom ausgerichtet wurde. Seitdem findet es alle drei Jahre an wechselnden Orten statt. Das Weltfamilientreffen zählt zu den größten Massenveranstaltungen der katholischen Kirche. Papst Franziskus wird dabei ebenso wie einst Johannes Paul II. im Westen Irlands das Pilgerzentrum Knock mit seinem bedeutenden Marienheiligtum besuchen. Höhepunkt wird die Sonntagsmesse im Phoenix-Park sein, die im Gegensatz zu 1979 aus Sicherheitsgründen auf 600.000 Besucher beschränkt wird.

Sicherlich wird der vor allem wegen seiner sozialpolitischen Ansichten populäre Franziskus die Massen bewegen. Doch das täuscht nicht darüber hinweg, daß die katholische Kirche längst die Macht über das Gewissen ihrer Gläubigen verloren hat. Es bereitet offenbar vielen irischen Katholiken kein seelisches Problem, sowohl die heilige Kommunion zu empfangen, als auch in einem Referendum ihren geistlichen Hirten den Gehorsam zu verweigern – weniger aus Protest als einfach aus Gleichgültigkeit.

Breda O’Brien ist eine der wenigen Stimmen im irischen Journalismus, die noch für die katholische Kirche ihr Wort erheben und dabei ein größeres Gehör finden als jedes Bischofswort. In ihrer Kolumne für die Irish Times nannte sie die Papst-Visite einen „Medien-Zirkus“, solange sie bei den Menschen nicht zur Einsicht führe, „daß es etwas kostet, ein Christ zu sein“. So stimmte sie die verbliebenen treuen Anhänger der Kirche auf kommende harte Zeiten als religiöse Außenseiter ein und erhob die Warnung, daß an die Stelle des kirchlichen Einflusses ein Hyper-Kapitalismus trete, „der uns zynisch in ein Scheinbild realer Freiheit manipuliert“. Die Kirche forderte sie auf, mutig als Gegenkultur aufzutreten: „Eine assimilierte Religion, die zu verängstigt ist, dafür einzustehen, woran sie glaubt, wird einfach nur schneller sterben.“

Zwei Wochen Zeit für ein solides Angebot

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

Zwei Wochen Zeit für ein solides Angebot
Irland, Nordirland und der Brexit: Um die offene Grenze, einen der Vorzüge des Friedensprozesses, wird hart gerungen
Daniel Körtel

Abgesehen von Großbritannien wäre kein EU-Land stärker vom Brexit betroffen als Irland. Als einziges EU-Mitglied ist es über Nordirland direkt mit einer gemeinsamen Grenze mit dem Königreich verbunden. Die offene Grenze ist einer der Vorzüge des nordirischen Friedensprozesses, der die wirtschaftliche und politische Verflechtung beider Teile der Grünen Insel intensivierte.

Viele der durch das Karfreitagsabkommen von 1998 gestarteten Programme und gegründeten Institutionen sind per EU-Recht untermauert. Sowohl auf nordirischer Seite, wo eine Mehrheit gegen den Brexit votierte, als auch in der Republik besteht die große Sorge, der Brexit könne in die Rückkehr einer „harten Grenze“ mit Zoll- und Grenzstationen münden.

Die Zukunft dieser Grenze ist neben den Bürgerrechten und dem britischen „Trennungsgeld“ für die EU eines der Kapitel in den Scheidungsverhandlungen zwischen der EU und Großbritannien. Phase eins, in der diese Punkte abgearbeitet werden sollen, endet im Dezember, bevor das künftige Verhältnis beider Parteien ausgehandelt werden soll. Die Beibehaltung der gemeinsamen Reisefreizügigkeit, die irischen und britischen Staatsbürgern den Grenzübertritt mit minimaler Identifikation erlaubt, gilt inzwischen als gesichert.

Widersprüchliche Signale aus Brüssel

Was die Grenze zu Irland anbelangt, betont London stets sein Interesse an einer Regelung „ohne harte Infrastruktur“. Auf dem Tisch liegt der Vorschlag der EU, daß Nordirland im Rahmen einer ganzheitlichen Lösung für Irland auch nach dem Brexit in der Zollunion und dem Binnenmarkt der EU verbleibe. Dies steht jedoch im scharfen Gegensatz zur Position der britischen Regierung und der nordirischen Unionisten, die die regierenden Tories stützen. Irlands Ministerpräsident Leo Varadkar erklärte, daß es nun an der britischen Seite liege, einen Gegenvorschlag zur Vermeidung einer harten Grenze zu unterbreiten.

Ob offene oder harte Grenze – beides sind Optionen, die beim gegenwärtigen Stand der Verhandlungen möglich sind. Aus Brüssel kommen widersprüchliche Signale darüber, was gegenwärtig unter dem schwammigen Begriff des „ausreichenden Fortschritts“ zu verstehen ist, der erst die nächste Phase ermöglicht.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem britischen Brexit-Minister David Davis erklärte am vergangenen Freitag in Brüssel der EU-Chefunterhändler Michael Barnier, daß Großbritannien zwei Wochen Zeit habe, ein neues und solides Angebot für sein „Trennungsgeld“ an die EU vorzulegen. Die hierfür veranschlagte Summe wird auf 60 Milliarden Euro geschätzt. Sollte die britische Seite diese Frist verstreichen lassen, droht eine Verschiebung der Entscheidung über den Eintritt in Phase zwei auf den nächsten März. Eine nur auf Nordirland bezogene Ausnahmeregelung zum Binnenmarkt und zur Zollunion schloß Davis weiterhin kategorisch aus.

Varadkar, der hartnäckig auf einer Übereinkunft für Gesamt-Irland beharrt, erinnerte an die Zusicherung der britischen Premierministerin Theresa May, sie wolle keine harte Grenze. Bei allem Optimismus bereitete er die Iren angesichts der gegenwärtigen innenpolitischen Konfusion in London auf ein Scheitern der Gespräche vor. Deutlicher wurde Barnier, der erklärte, daß die EU für den Fall eines Kollapses der Austrittsverhandlungen bereits einen Notfallplan entwerfe. Für diesen Fall würde Großbritannien – vergleichbar mit China – ab dem 29. März 2019 auf die Bedingungen der Welthandelsorganisation WTO zurückfallen.

Zwei Gewinner und doch kein Sieger

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Zwei Gewinner und doch kein Sieger
Nordirland: Bei der Neuwahl zum Regionalparlament konnte die protestantische DUP nur knapp ihre Führungsposition verteidigen / Schwierige Verhandlungen
Daniel Körtel

Nur zehn Monate nach der letzten regulären Regionalwahl wurden die Bürger der britischen Provinz Nordirland am vergangenen Donnerstag zu einer Neuwahl aufgerufen. Nötig wurde sie, nachdem im Januar Martin McGuinness, der von der linksnationalistischen Sinn Fein gestellte stellvertretende Ministerpräsident der Allparteienregierung, zurücktrat.

Anlaß war der Skandal über ein offenbar schlampig ausgearbeitetes Förderprogramm für erneuerbare Energien (RHIS), das Antragstellern hohe Gewinne einbrachte, dem Steuerzahler aber eine unerwartete Lücke von fast 500 Millionen Pfund. Verantwortliche Ministerin für dieses Programm war Arlene Foster, seit Januar 2016 Ministerpräsidentin von Nordirland.

Nordirlands politische Kultur ist nach wie vor von der Gruppendynamik zwischen den pro-britischen Protestanten und den pro-irischen Katholiken geprägt. Entsprechend ist das politische System seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 auf einen fragilen Machtausgleich zwischen beiden Lagern angelegt, bei dem die protestantischen Parteien stets die führende Rolle innehatten.

Insofern war für das protestantische Lager das Wahlergebnis ein Debakel, das knapp an einer Katastrophe vorbeischrammte. Nur knapp konnte die DUP (Democratic Unionist Party) von Arlene Foster mit 28 Sitzen ihre Position als stärkste Kraft im Stormont, dem nordirischen Regionalparlament, knapp vor der linksnationalistischen Sinn Fein behaupten. Zwar hat die DUP damit nach wie vor Anspruch auf den Posten des Ministerpräsidenten, verliert aber ihr Vetorecht, mit dem sie beispielsweise die Einführung der Homo-Ehe verhinderte.

Die Sinn Fein unter Michelle O’Neill hingegen fuhr mit 27 Sitzen ihr bislang bestes Ergebnis ein. Von Nutzen war ihr nicht allein der Förder-Skandal. Ebenso kam ihr die Verärgerung vieler Wähler über den von der DUP massiv unterstützten Brexit entgegen, der im Referendum vom vergangenen Juni in Nordirland keine Zustimmung fand. Ausgerechnet Foster war eine ihrer besten Wahlhelferinnen, als sie die Partei mit einem Krokodil verglich, das nur noch mehr fordere, je mehr man es füttere.

Unerfüllt blieben die Hoffnungen der einst den Friedensprozeß in der früheren Unruheprovinz tragenden Parteien der Mitte, aus dem Streit der zwei großen Antagonisten einen Vorteil zu ziehen. Die nationalistische SDLP (Social Democratic and Labour Party) konnte sich mit zwölf Sitzen als dritte Kraft im Stormont behaupten, während die UUP (Ulster Unionist Party), die einstige Staatspartei Nordirlands, mit zehn Sitzen zum weiteren Verlierer des Unionismus wurde. Zu den Gewinnern zählt die überkonfessionelle Alliance Party, die ihren größten Stimmenanteil seit mehr als 30 Jahren erzielte und künftig acht Abgeordnete stellt.

Die nun anstehenden Gespräche für die Bildung einer neuen Allparteienregierung werden sich extrem schwierig gestalten. Die Sinn Fein hat eine Beteiligung von Arlene Foster so lange ausgeschlossen, bis ihre Rolle in dem RHIS-Förderprogramm endgültig geklärt ist. Doch erste Stimmen aus der DUP stellten klar, daß man nicht bereit sei, die eigene Parteichefin einem Ultimatum der Sinn Fein zu opfern. Sollten sich die Fronten weiter verhärten, müßte die britische Regierung wieder zur direkten Kontrolle aus London übergehen.

Mit der Abrißbirne am Abtreibungsverbot

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

Mit der Abrißbirne am Abtreibungsverbot
Irland: Eine hartnäckige Lobby zielt auf ein Referendum zur Abschaffung des Gesetzes zum Schwangerschaftsabbruch
Daniel Körtel

Es ist eine Entscheidung von hohem Symbolwert für das religiöse Leben in Irland: Anfang Februar gab die katholische Gemeinde im Dubliner Vorort Finglas bekannt, ihre 1967 eröffnete Kirche der Verkündigung, eine der größten Kirchen in der irischen Hauptstadt, abzureißen und durch einen deutlich kleineren Bau zu ersetzen. Die Gemeinde begründet ihren Entschluß mit den hohen Unterhaltskosten und dem drastischen Rückgang bei den Gottesdienstbesuchen.

Nicht allein mit der Abrißbirne an Kirchengebäuden verändert sich der religiöse Charakter des einstmals streng katholischen Landes. Nach dem erfolgreichen Referendum zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe 2015 gibt es nun verstärkte Bestrebungen, mit der Abschaffung des Achten Verfassungszusatzes das strikte Abtreibungsverbot als letzten bedeutenden Werteeinfluß der katholischen Kirche aus der Verfassung der irischen Republik zu eliminieren.

Die katholische Kirche reagiert zaghaft auf Angriffe

Der Achte Verfassungszusatz besagt, daß der Schutz des ungeborenen Lebens gleichwertig ist zu dem der Mutter. Eine Abtreibung ist nur dann erlaubt, wenn durch die Schwangerschaft das Leben der Mutter bedroht ist.

In der Praxis ist das Verbot durch den Abtreibungstourismus in das nahe England oder die Niederlande ohnehin unterlaufen. Doch seit geraumer Zeit nimmt der Druck auf das Abtreibungsverbot beständig zu. Emotional heizte sich die Debatte zusätzlich auf durch den dramatischen Fall von Savita Halappanavar. Die junge Inderin verstarb 2012 infolge von Schwangerschaftskomplikationen in einem irischen Krankenhaus. Da ihr Fötus bis zum Ende Herztöne aussandte, verweigerten die behandelnden Ärzte unter Hinweis auf die gesetzliche Lage eine Abtreibung.

Mit dem Rückenwind aus dem Referendum zur Homo-Ehe sehen die Pro-Choice-Aktivisten, die den Frauen die Entscheidung über eine Abtreibung überlassen wollen, die Zeit gekommen, ein Referendum für die Abschaffung des Abtreibungsverbots auf den Weg zu bringen.

So rief „Strike 4 Repeal“ für den Internationalen Weltfrauentag am 8. März zu einem nationalen Streik auf, falls bis dahin die Regierung kein Referendum über die Abtreibung ausruft. Die Irish Times, die wie alle Mainstreammedien dem Anliegen wohlwollend gegenübersteht, frohlockte: „Ein Streik an diesem Tag, ungeachtet wie klein die Beteiligung ist, wird nationale und weltweite Beachtung finden. Es wird das Fundament für weitere Streiks legen.“

Zaghaft zeigt sich demgegenüber die irisch-katholische Kirche in der Verteidigung ihrer Werte. Der Primas von Irland, Eamon Martin, erklärte in einem Interview, daß die Entscheidung über ein solches Referendum keine Angelegenheit der katholischen Kirche sei. Martin betonte, in der Lehre der Kirche finde sich nichts, „das sagt, man könne das überlegte und absichtliche Antasten des menschlichen Lebens an irgendeiner Stufe unterstützen“.

Der Erzbischof ließ offen, ob die Kirche in einer Referendumskampagne Pro-Life-Gruppen finanziell unterstützen wolle. Gleichwohl wies er auf das Gefühl der Schieflage innerhalb dieser Bewegungen hin, da der Gegenseite ungleich größere Geldmengen für ihr Anliegen zufließen.

Mit ihrer jahrzehntelangen Lobbyarbeit in Politik und Gesellschaft sind die Pro-Choice-Aktivisten so nahe wie nie an ihrem Ziel. Die Citizen’s Assembly, eine bedeutende öffentliche Institution aus 99 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Bürgern, steht derzeit in Beratungen über das Abtreibungsverbot. Ein Referendum könnte bis Mitte 2018 stattfinden und die irische Gesellschaft stärker polarisieren als das über die Homo-Ehe. Dennoch sagen Umfragen einen deutlichen Zuspruch für eine Abschaffung des Abtreibungsverbotes voraus.

Nach einem für die katholische Kirche bitteren Ausgang wird Papst Franziskus voraussichtlich im August 2018 die Grüne Insel besuchen. Fast 40 Jahre nach der umjubelten Visite seines Vorvorgängers Johannes Paul II. wird er auf ein vollkommen verändertes Irland treffen. Wie immer das Land sich dann in seinem religiösen Selbstverständnis neu orientiert, mit seinem früheren Anspruch als „treueste Tochter der Kirche“ wird es nichts mehr gemein haben.

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