© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Der Beginn eines dreißigjährigen Bürgerkriegs
Mit der „Schlacht um die Bogside“ 1969 erreichte der Konflikt von Protestanten und Katholiken in Nordirland die Ebene der Gewalt
Daniel Körtel

Der Tod der jungen Journalistin Lyra McKee während Ausschreitungen in Londonderry im vergangenen April rief für einen Augenblick die Ungeister Nordirlands, dem „Kosovo Großbritanniens“, in Erinnerung. Kurz bevor sie die Kugel eines mutmaßlichen Schützen der republikanischen Dissidentengruppe New IRA traf, twitterte sie über die Lage vor Ort: „Derry tonight. Absolute madness.“

Der tragische Tod McKees geschah am gleichen Ort, an dem sich vor fünfzig Jahren die konfessionell-nationalen Gegensätze zwischen pro-irischen Katholiken und den loyal zur Union mit Großbritannien stehenden Protestanten zu einem explosiven Gewaltausbruch verdichteten.

Die Vorgeschichte zu dem Drama ist geradezu beispielhaft für ein oft wiederkehrendes Muster in der Geschichte, wo Reformer in bester Absicht verkrustete Verhältnisse aufzubrechen versuchten und dabei eine Dynamik in Gang setzten, die sie und das System, das sie zu erhalten trachteten, am Ende hinwegfegte.

Vermehrte Signale für eine Tauwetterperiode

1963 in das Amt des Premierministers gekommen, wagte der Unionist Terence O’Neill eine vorsichtige Öffnung gegenüber der benachteiligten katholischen Minderheit. O’Neill erkannte, daß eine ökonomische Modernisierung des protestantisch dominierten Landes, dessen Werften- und Textilindustrien im Niedergang begriffen waren, nicht ohne die gleichberechtigte Teilhabe der Katholiken zu erreichen war. O’Neill verband mit seinem Kurs die Hoffnung, mit einer Verbesserung ihrer Lage die Loyalität der Katholiken für die Union mit Großbritannien gewinnen zu können.

O’Neills Pläne fügten sich perfekt in den Zeitgeist der sechziger Jahre ein, ein Jahrzehnt, das an seinem Beginn erfüllt war vom Fortschrittsoptimismus der technischen Machbarkeit und politisch-gesellschaftlichem Aufbruch. Von den USA wirkte die Bürgerrechtsbewegung auf viele inspirierend. Zu den als spießig und als überkommen verworfenen Werten und Traditionen ihrer Eltern etablierten sich in den westlichen Staaten alternative Gegenkulturen. Und selbst die katholische Kirche wagte mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Weg in eine neue Moderne. Doch von all den Hoffnungen blieb am Ende des Jahrzehnts nicht mehr viel übrig. So auch in Nordirland.

Bereits die Einladung an seinen Amtskollegen aus der Republik Irland, Sean Lemass, zu einem Besuch in Nord-irland lieferte 1965 ein spektakuläres Signal für die Tauwetterperiode, die O’Neill gegenüber der irisch-katholischen Minderheit einleitete. Dennoch unterblieben strukturelle und politische Reformen. Katholiken sahen sich weiterhin bei der Vergabe kommunaler Wohnungen benachteiligt, bei Wahlen durch den Zuschnitt der Wahlkreise und dem Zensuswahlrecht sowie durch den Special Power Act, der der Regierung besondere Vollmachten zur Durchsetzung von Recht und Ordnung gab.

Doch so konnte O’Neill die Erwartungen der Katholiken nicht erfüllen. Auf der anderen Seite überforderte O’Neill die Protestanten, die um den Status ihrer Provinz fürchteten. Besonders der rabiate Protestanten-Prediger Ian Paisley trieb mit seiner scharfen Rhetorik den Premier vor sich her.

Als katholische Bürgerrechtler am 5. Oktober 1968 einen Protestmarsch nach Londonderry organisierten, kam es zum ersten ernsthaften Zusammenstoß mit der Staatsmacht. Beamte des Polizeidienstes RUC schlugen die Demonstranten mit ihren Knüppeln nieder. Die mediale Wirkung des vor laufenden Kameras vollzogenen Einsatzes war für die nordirische Regierung verheerend und für die Bürgerrechtsbewegung ein gewaltiger Propagandasieg, der ihr weiteren Auftrieb gab. Auf steigenden Druck aus London hin, wo der britische Labour-Premier Harold Wilson mit der Sache der Katholiken sympathisierte, entschloß sich O’Neill zu politischen Reformen, die aber noch zu entfernt von britischen Standards waren – zu spät und zu kurz gegriffen, um noch Wirkung zu entfalten.

Gegenseitige Provokationen durch Protestmärsche

In einer dramatischen Rede warnte O’Neill, daß das Land davor stehe, ins Chaos zu versinken. Sollte es der Regierung nicht gelingen, die Probleme in den Griff zu bekommen, drohe die Gefahr, daß London über die Köpfe der Nordiren hinweg entscheide. Die öffentliche Unterstützung nach der Rede war groß, doch die für Februar 1969 anberaumten Neuwahlen zeigten eine innerparteiliche Zersplitterung von O’Neills Unionisten in Anhänger und Gegner seines Kurses. Eine Reihe von Bombenanschlägen auf öffentliche Einrichtungen und Gebäude, die anfangs der Irisch-Republikanischen Armee IRA zugeschrieben wurden, besiegelten das Ende des Premiers, der von seinem Amt zurücktrat. Später stellte sich die Urheberschaft der Protestanten-Miliz UVF heraus, die damit die Regierung zu destabilisieren suchte.

Zum Wendepunkt wurde der Sommer 1969, wenn durch die protestantische Paradesaison traditionell die politische Temperatur Nordirlands am höchsten steigt. Der Marsch von 15.000 Angehörigen der protestantischen Apprentice Boys am 12. August durch Londonderry führte zur Explosion der offenbar lange aufgestauten Gewalt. Durch Steinwürfe aus der katholischen Enklave Bogside provoziert, versuchte die RUC, gefolgt vom protestantischen Mob, die mit Barrikaden gesicherte Bogside zu stürmen. Ihre Bewohner waren nicht unvorbereitet und empfingen die unter CS-Gas anrückenden Beamten mit Wurfgeschossen aus Steinen und Benzinbomben. „The Battle of the Bogside“ – die Schlacht um die Bogside – war in vollem Gange.

Die RUC und die den Katholiken besonders verhaßte Sondereinsatzgruppe der B-Specials gerieten rasch an ihre Grenzen. Bürgerrechtler organisierten zur Entlastung an anderen Stellen Nordirlands Aufruhr. So auch in der Provinzhauptstadt Belfast, wo nebeneinander in dem katholischen Viertel Falls und dem protestantischen Shankill ein ohnehin konfliktträchtiges gemischt-konfessionelles Siedlungsmuster bestand. Als Brandbeschleuniger wirkte ein Fernsehauftritt des irischen Premiers Jack Lynch, der unter dem Eindruck der Ereignisse als einzige Lösung der Krise die Wiedervereinigung der Insel ansah, was Protestanten als Provokation auffassen mußten, Katholiken hingegen als Ermutigung.

Nach zwei Tagen Straßenschlachten und brennender Häuser rief O’Neills Nachfolger James Chichester-Clark London um Hilfe, das die britische Armee entsandte. Unter dem Jubel der protestantischen Bevölkerung zogen die Soldaten in die Konfliktgebiete ein und beendeten den Aufruhr. Die schreckliche Bilanz: Mindestens acht Tote, über 700 Verletzte, davon über 150 durch Schußwaffen. 170 Häuser wurden niedergebrannt, 1.800 Familien vertrieben. O’Neills Befürchtungen über die Zukunft eines Nordirlands der gewalttätigen Konflikte wurden Wirklichkeit. Der Bürgerkrieg hatte begonnen. Er sollte bis zu einem formellen Abschluß mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 noch fast dreißig Jahre dauern und etwa 3.500 Menschen das Leben kosten.

Nordirland-Konflikt

1919–1921

Irischer Unabhängigkeitskrieg. Er endet mit dem Anglo-Irischen Vertrag, der die Teilung des Landes in einen Freistaat, den Vorläufer der heutigen Republik Irland, und Nordirland vorsieht.

1922–1923

Irischer Bürgerkrieg zwischen Befürwortern und Gegnern des Vertrages

  1. Oktober 1968

Die britische Polizei in Nordirland, die Royal Ulster Constabulary (RUC), knüppelt Demonstranten eines zuvor verbotenen Protestmarschs katholischer Bürgerrechtler nieder.

  1. August 1969

Protestanten stürmen in Derry den katholischen Stadtteil Bogside. Die Straßenschlachten mit den Apprentice Boys of Derry, einer protestantischen Bruderschaft, und der nordirischen Polizei dauern zwei Tage.

1969–1998

Hochphase des Nordirlandskonflikts bis zum Waffenstillstand im sogenannten Karfreitagsabkommen.