© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/18 / 24. August 2018

Die untreuen Kinder des Papstes
Irland: Bei seinem Besuch des Weltfamilientreffens stößt Papst Franziskus auf ein dem katholischen Glauben entfremdetes Land
Daniel Körtel

Es wird vermutlich die schwierigste Auslandsreise seiner bisherigen Amtszeit werden: Wenn Papst Franziskus am 25. August zu seinem Besuch in Irland eintrifft, dann wird er direkt mit einem Land konfrontiert, das seinen Ruf als „treueste Tochter der Kirche“ längst abgelegt hat.

Zwei einschneidende Referenden haben der Welt zuletzt vorgeführt, daß der Moralkodex der katholischen Kirche für die Iren nicht mehr maßgebend ist. 2015 stimmte eine deutliche Mehrheit der Iren für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und im vergangenen Mai sogar 66 Prozent für die Abschaffung des rigiden Abtreibungsverbots.

Die Reaktionen der Kirche auf den Siegesjubel der Gewinner des Referendums wirkten hilflos. Bischof Kevin Doran empfahl den Katholiken, die für die Abschaffung stimmten, zur Beichte zu gehen.

Wie zum Trotz bekannte daraufhin die frühere Staatspräsidentin Mary McAleese ihr überzeugtes Votum für die Aufhebung des Abtreibungsverbots und daß sie nicht vorhabe, deswegen zur Beichte zu gehen. Auch werde sie zu keiner der Veranstaltungen zum Papst-Besuch gehen. Sie nahm aber an der Dubliner „Pride Parade“ zum diesjährigen LGBTQ-Festival teil.

Schockierende Zustände in kirchlichen Heimen

In den Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1922 war in Irland der Status der katholischen Kirche unantastbar. Die Verfassung von 1937 garantierte ihre Sonderrolle als Vertreterin der Mehrheitsreligion und gab ihr somit Einfluß auf Bildungswesen, Kulturleben und Zensur. Das entsprach durchaus den Idealen der Gründungsväter für ein landwirtschaftlich geprägtes, autarkes und nach kirchlichen Moralvorstellungen geprägtes Irland: „Ein katholischer Staat für ein katholisches Volk“.

Ihren großen Einfluß auf die irische Gesellschaft konnte die Kirche noch bis in die 1980er Jahre behaupten, als 1986 per Referendum die Ehescheidung abgewehrt wurde. Den Beginn ihres Autoritätsverlustes markierte der Skandal um den hochangesehenen Bischof Eamon Casey. 1992 kam heraus, daß der Bischof aus einer Liaison mit einer Amerikanerin einen 18jährigen Sohn hatte, für dessen Unterhalt er Kirchengelder veruntreute. Weitere Enthüllungen um sittliche Verfehlungen und sexuellen Kindesmißbrauch durch Priester taten ihr Übriges.

Für Empörung sorgte zuletzt die Aufdeckung Jahrzehnte anhaltender, schockierender Zustände in kirchlichen Heimen für unehelich geschwängerte Frauen, in denen Nonnen die harte Bestrafung für den Verstoß gegen die katholische Sexualmoral über die christliche Pflicht zur Nächstenliebe stellten. Die Mütter mußten Zwangsarbeit leisten. Ihre Kinder wurden ihnen weggenommen und zur Adoption freigegeben. Hohe Todesraten unter den Säuglingen legen den Verdacht der Vernachlässigung und Unterernährung nahe.

Zwar sind die Mißstände in den zumeist ohnehin geschlossenen Heimen längst abgestellt, doch die laufende Aufarbeitung hält das Thema am Kochen.

Vordergründig sind es solche spektakulären Skandale, die den Niedergang der irischen katholischen Kirche bewirkten. Doch darüber hinaus lohnt es sich auch, den tieferen sozialen Ursachen der Auflösung der traditionellen Bindungen im gesellschaftlichen Gefüge Irlands nachzuspüren. Allein der Mentalitätswandel innerhalb nur einer Generation bewirkte eine Unterminierung der Kirche.

Priestermangel auf hohem Niveau

Papst Franziskus wandelt in den Fußstapfen seines reisefreudigen Vor-Vorgängers Johannes Paul II. Dessen Irland-Visite im September 1979 geriet zum Triumphzug, der fast das gesamte Land mitriß. Allein eine Million Besucher nahmen an der Messe des Papstes im Dubliner Phoenix-Park teil. Das erstaunliche Ergebnis dieser nationalen Euphorie zeigte sich neun Monate später im Juni 1980 in der Geburtenstatistik: 74.000 Babys bildeten die deutliche Spitze eines Babybooms, der sich seit den 1970er Jahren erhob.

Der irische Starökonom David McWilliams erkannte 2005 als erster diesen Zusammenhang und popularisierte diese Generation von rund 620.000 Neugeborenen in einem gleichnamigen Bestseller als „The Pope’s Children“ („Die Kinder des Papstes“). Sie ist von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes. In Verbindung mit den schmerzhaften Strukturreformen der späten 1980er Jahre beförderte sie gut qualifiziert und hochmotiviert als „kreativer Dynamo“ Irland vom kranken Mann am Rand Europas zum Wirtschaftswunder des „Keltischen Tigers“.

Das steigende Wirtschaftswachstum beendete die Emigration des jungen Potentials und brachte die Bevölkerungszahl 1993 auf einen Höchststand von 3,8 Millionen Einwohnern.

Nicht nur ökonomisch, auch kulturell öffnete sich damals das 1973 in die Europäische Gemeinschaft eingetretene Land äußeren Einflüssen. Mit dieser Modernisierung erfüllten sich aber auch die früheren Befürchtungen christlicher Stimmen, was eintreten würde, wenn das Land wohlhabender und industrialisiert würde. So wie der Reichtum an die Stelle der bisherigen Armut trat, so verdrängten Materialismus, Werterelativismus und Individualismus den Anspruch auf eine geistig-spirituelle Ausrichtung der Nation.

Die Sitten lockerten sich, die traditionelle Familie wurde zum Auslaufmodell: Die Zahl außerehelicher Geburten stieg deutlich an. Frauen stellten das Streben nach beruflicher Karriere über die Heirat. 1995 entschied eine knappe Mehrheit für die Einführung einer gesetzlichen Ehescheidung. Die Krise im religiösen Leben Irlands zeigte im gleichen Jahr der drastische Tiefstand von lediglich 111 Priesterberufungen gegenüber 1.409 im Jahr 1966.

Die Schwierigkeiten, auf die die Seelsorger kaum vorbereitet waren, beschrieb unlängst Erzbischof Eamon Martin in einer Rückschau. Er habe sich oft gefragt, ob irgendeine Art von priesterlichem „Training“ ihn vollständig auf das vorbereiten konnte, was jeweils vor ihm lag. Martin nannte die „schrecklichen und schockierenden“ Kindesmißbrauchsskandale; die Herausforderungen einer Säkularisierungswelle; die digitale Revolution und die Ankunft des Internets und der sozialen Medien; die gesellschaftliche Tendenz zu grassierendem Konsumismus, Individualismus und Relativismus; der Kampf um ein zölibatäres Leben in einer hypersexualisierten Kultur.

Die Situation hat sich seitdem nicht gebessert. Wenn die Attraktivität der Priesterlaufbahn ein Indikator für den Zustand der Kirche ist, dann ist er in Irland dramatisch: Im vergangenen Jahr fiel die Zahl der Einsteiger im Priesterseminar am St. Patrick’s College Maynooth auf ein historisches Rekordtief von sechs Seminaristen – von insgesamt 41 – seit ihrer Gründung 1795.

Die Not trieb manchen zurück in die Kirche

Der Konsumrausch beförderte eine Immobilienblase, die 2008 krachend platzte. Mit Sarkasmus merkte der Analyst McWilliams an, daß die Fütterung dieser Blase – dank der europäischen Einheitswährung – vor allem durch deutsche Bankenkredite erfolgte aus den Ersparnissen der älteren und gutverdienenden Generationen, die erst durch ihre überwiegende Kinderlosigkeit hohe Anlagen bilden konnten – deutsches Kapital kinderloser Renten- und Pensionsanwärter auf Renditesuche traf die junge irische Gier nach höchstem Wohlstand auf Kredit.

Die Not der anschließenden Rezession lehrte vielleicht manche Iren wieder das Beten, aber an die zerrissenen Bindungen zur Kirche ließ sich nicht wieder neu anknüpfen. Der europäische Trend zur Säkularisierung, den Irland mit Verspätung im Eiltempo nachholte, ließ sich nicht mehr umkehren.

Anlaß der Papst-Visite ist das diesjährige Weltfamilientreffen in Dublin, das 1993 erstmals auf Initiative des Papstes in Rom ausgerichtet wurde. Seitdem findet es alle drei Jahre an wechselnden Orten statt. Das Weltfamilientreffen zählt zu den größten Massenveranstaltungen der katholischen Kirche. Papst Franziskus wird dabei ebenso wie einst Johannes Paul II. im Westen Irlands das Pilgerzentrum Knock mit seinem bedeutenden Marienheiligtum besuchen. Höhepunkt wird die Sonntagsmesse im Phoenix-Park sein, die im Gegensatz zu 1979 aus Sicherheitsgründen auf 600.000 Besucher beschränkt wird.

Sicherlich wird der vor allem wegen seiner sozialpolitischen Ansichten populäre Franziskus die Massen bewegen. Doch das täuscht nicht darüber hinweg, daß die katholische Kirche längst die Macht über das Gewissen ihrer Gläubigen verloren hat. Es bereitet offenbar vielen irischen Katholiken kein seelisches Problem, sowohl die heilige Kommunion zu empfangen, als auch in einem Referendum ihren geistlichen Hirten den Gehorsam zu verweigern – weniger aus Protest als einfach aus Gleichgültigkeit.

Breda O’Brien ist eine der wenigen Stimmen im irischen Journalismus, die noch für die katholische Kirche ihr Wort erheben und dabei ein größeres Gehör finden als jedes Bischofswort. In ihrer Kolumne für die Irish Times nannte sie die Papst-Visite einen „Medien-Zirkus“, solange sie bei den Menschen nicht zur Einsicht führe, „daß es etwas kostet, ein Christ zu sein“. So stimmte sie die verbliebenen treuen Anhänger der Kirche auf kommende harte Zeiten als religiöse Außenseiter ein und erhob die Warnung, daß an die Stelle des kirchlichen Einflusses ein Hyper-Kapitalismus trete, „der uns zynisch in ein Scheinbild realer Freiheit manipuliert“. Die Kirche forderte sie auf, mutig als Gegenkultur aufzutreten: „Eine assimilierte Religion, die zu verängstigt ist, dafür einzustehen, woran sie glaubt, wird einfach nur schneller sterben.“