© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Der Macht so nah und doch so fern
Irland nach der historischen Parlamentswahl: Regierungsbildung wird problematisch
Daniel Körtel

Kaum einen dürfte der sensationelle Wahlsieg der Sinn Féin (SF, Wir selbst) bei den irischen Parlamentswahlen bitterer aufgestoßen sein als den Eheleuten Stephen und Breege Quinn. Als sich im Wahlkampf der unerwartete Aufstieg der linksnationalistischen Partei abzeichnete, gingen sie in die Öffentlichkeit, um auf den nach wie vor unaufgeklärten Mord an ihrem Sohn Paul im Jahr 2007 aufmerksam zu machen. Paul (21) wurde damals auf einer Farm im nordirischen Armagh so grausam zugerichtet, daß er an seinen Verletzungen verstarb. Der Schlägertrupp kam offenbar aus Kreisen der Terrororganisation IRA.

Für anhaltende Empörung sorgte die seinerzeitige Behauptung des früheren IRA-Kämpfers und heutigen nordirischen SF-Finanzministers Conor Murphy, Paul sei in Schmuggel und Kriminalität verwickelt gewesen.

Die Grünen werden sich teuer verkaufen

Der Aufforderung der Quinns an den in der IRA-Szene bestens vernetzten Murphy, seine Äußerungen zurückzunehmen und sein Wissen um den Mord an die Polizei weiterzugeben, ist er aus ihrer Sicht nur unzureichend nachgekommen, was wiederum die SF unter Druck setzte.

Der Fall Paul Quinn erweitert so die historische Parlamentswahl um eine menschliche Komponente, die ihrer Bedeutung noch stärkere Konturen verleiht. Von ihren Konkurrenten ausgegrenzt, spielte die Partei über viele Jahrzehnte als politischer Arm der IRA nur eine Nebenrolle in der irischen Republik, während sie in Nordirland zur stärksten Kraft im irisch-nationalistischen Lager aufstieg. Zusätzlich machte sie ihre ungeklärte Haltung zur oftmals mit Paramilitärs verwobenen organisierten Kriminalität für jede Zusammenarbeit ungenießbar. Dennoch hat sie seit dem Karfreitagsabkommen von 1998, das den Bürgerkrieg in Nordirland offiziell beendete, auch in der Republik ihren Wähleranteil stetig ausbauen können.

Doch nun hat auch Irland jener Trend in den westeuropäischen Staaten eingeholt, wonach die bislang starke Mitte durch Druck von den Rändern sich zugunsten eines breiter aufgefächerten Parteiensystems aufsplittert. Noch vor 40 Jahren teilten sich die nationalkonservative Fianna Fáil (FF, Soldaten des Schicksals) und die bürgerliche Fine Gael (FG, Familie der Iren) vier Fünftel der Wählerstimmen und wechselten in der Regierung einander ab. Diese Arithmetik geht seit dem 8. Februar nicht mehr auf. Seitdem stehen sich drei etwa gleich starke Parteien gegenüber, die aus der SF mit 24,53 Prozent, der FF mit 22,18 Prozent und der bisherigen Regierungspartei FG mit 20,86 Prozent bestehen.

Der Schub für die SF kam vor allem von jungen Wählern, die keine Verbindung aus eigenem Erleben zu der Vergangenheit des nordirischen Bürgerkrieges mehr haben. Sie fühlen sich aktuell bedrängt von der Wohnungskrise und sehen in eine trübe Zukunft, in der sie durch hohe Mieten trotz guter Ausbildung nie zu einem Eigenheim kommen werden.

Letztlich wurde der Wunsch nach Wandel befördert durch die mangelnde Glaubwürdigkeit der FG, die in neun Jahren an der Macht die Probleme nicht in den Griff bekam, und der FF, der man die Verantwortung für die letzte Wirtschaftskrise nicht vergessen hat.

Die Regierungsbildung gestaltet sich schwierig. Nach seiner ersten Sitzung in der vorigen Woche vertagte sich das neue Parlament für zwei Wochen, um der Regierungsbildung weiter Zeit zu geben. Der Versuch der SF-Vorsitzenden Mary Lou McDonald, eine von ihr präferierte Links-Koalition mit den kleineren Parteien wie den Grünen, Labour, radikalen Linken und unabhängigen Abgeordneten zu bilden, ist mangels Masse schon im Ansatz gescheitert, zumal Labour sich für den Gang in die Opposition entschied.

Eine Verbindung mit der FF erscheint aussichtslos, nachdem ihr Vorsitzender Micheál Martin in der ersten Parlamentssitzung schwere Angriffe gegen die SF wegen ihrer Vergangenheit und ihrer umstrittenen politischen Kultur gefahren hat.

Die wahrscheinlichste Option ist die einer großen Koalition aus FF und der FG unter Einschluß der Grünen, die ihre Stimmen teuer verkaufen dürften. Martins Angriffe gegen die SF könnten aus dem strategischen Kalkül heraus erfolgt sein, dieser in FF und in FG ungeliebten Variante den Boden zu bereiten, die in der irischen Geschichte ein neues Experiment wäre. Ihn begünstigte zusätzlich die Stellungnahme des irischen Polizeichefs, wonach die SF nach wie vor vom Führungsgremium der IRA überwacht werde. McDonald hingegen wies dies zurück; die IRA sei „von der Bühne abgetreten“.

Für diese Woche sind erste Sondierungsgespräche zwischen Martin und dem amtierenden Ministerpräsidenten Leo Varadkar (FG) angesetzt.