© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/06 02. Juni 2006
Vom Aus- zum Einwanderungsland
Irland: Die große Anzahl osteuropäischer Arbeitsmigranten sorgt beim „keltischen Tiger“ für Unruhe
Daniel Körtel
Einwanderung ist für Irland ein relativ neues und ungewohntes Phänomen. In früheren Jahrzehnten waren es nur vereinzelte modernitätsmüde Aussteiger, die sich aus romantischen Erwägungen in der „Dritten Welt Westeuropas“ niederließen. Doch mit Irlands ökonomischem Aufstieg zum „keltischen Tiger“ gewann die grüne Insel in den letzten Jahren neue Anziehungskraft nicht nur für Firmen als Ansiedlungsstandort, sondern auch für Arbeitnehmer.
Die Entwicklung hat bereits zu ersten Konflikten geführt
Mit dem EU-Beitritt von zehn meist ärmeren Staaten zum 1. Mai 2004 hat diese Entwicklung eine zusätzliche Dynamik erhalten, da Irland neben Schweden und Großbritannien als einziges EU-Land diesen Beitrittsländern volle Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt. Doch unter dieser über die Iren hereinbrechenden Einwanderungswelle beginnt sich die Mentalität der gastfreundlichen „Paddys“ spürbar zu wandeln.
Gemäß im Mai veröffentlichten Statistiken des Department of Social and Family Affairs arbeiten in Irland derzeit mehr als 200.000 registrierte Wanderarbeitnehmer aus den neuen Mitgliedsstaaten, die vor allem im Niedriglohnsektor wie dem Baugewerbe, Nahrungsversorgung und der Lebensmittelproduktion beschäftigt sind. Mit über 100.000 kommt der größte Teil von ihnen aus Polen, gefolgt von Litauen, Lettland und der Slowakei. Während im Jahr 2004 durchschnittlich rund 7.000 Neuankömmlinge monatlich gezählt wurden, waren es im vergangenen Jahr bereits 9.400.
Doch in diesem Jahr stieg diese Zahl auf über 10.000. Nicht erfaßt werden die Abgänge und die Zahl der miteinreisenden Familienmitglieder. Schätzungen von Migrantenorganisationen geben an, daß die Wanderarbeiter durchschnittlich zwölf bis 18 Monate im Land bleiben. Deren tatsächliche Anzahl dürfte nach Expertenmeinung allerdings um ein Drittel über den offiziellen Zahlen liegt, welches vermutlich illegal unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns von 7,65 Euro pro Stunde arbeitet.
Diese Entwicklung hat bereits zu ersten Konflikten geführt. Die Absicht der Fährgesellschaft Irish Ferries, mehr als 500 irische Mitarbeiter durch billigere Arbeitskräfte aus Osteuropa zu ersetzen, hat zu massiven Protesten geführt. 100.000 Iren demonstrierten im Dezember in Dublin, um ihre Solidarität mit den Fährbediensteten zu bekunden.
Unter dem Druck der osteuropäischen Konkurrenz drohen vor allem junge, gering qualifizierte Iren unter die Räder zu geraten, die mit den besser ausgebildeten und flexibleren Osteuropäern nicht mithalten können. Die Folge ist trotz steigender Beschäftigtenzahlen und eines prächtig gedeihenden Arbeitsmarktes für Migranten eine zunehmende, sich verfestigende Jugendarbeitslosigkeit. In dieser Schicht macht sich der Eindruck breit, Arbeitgeber bevorzugten eher Migranten als Einheimische, die sich gar nicht mehr zu bewerben brauchten.
Die „polnische Herausforderung“
Das Unbehagen vieler Iren über den Zustrom aus den neuen Mitgliedsstaaten brachte im Januar eine für die Irish Times durchgeführte Umfrage zum Ausdruck. Zwar sahen die meisten Befragten die Anwesenheit der Zuwanderer aus Osteuropa als nützlich für die irische Wirtschaft und Gesellschaft an. Doch eine überwältigende Mehrheit von 78 Prozent, die sich durch fast alle Altersgruppen und sozialen Schichten zieht, befürwortete eine zwingende Arbeitserlaubnis für diese Gruppe vor ihrer Ankunft auf der Insel. Viele haben den Eindruck, daß durch die neue Konkurrenz die Löhne und Arbeitsbedingungen unter Druck geraten. Eine breite Mehrheit ist ebenso der Ansicht, es seien bereits genug oder sogar zu viele Arbeitsmigranten im Land.
Diese Ansichten stehen im Gegensatz zu der Auffassung der sehr EU-freundlichen Regierung, daß Irland in den nächsten 12 Jahren weitere 600.000 Zuwanderer benötige, um das Wirtschaftswachstum halten zu können. Dennoch hat die Regierung unter dem neuen Druck der Öffentlichkeit die Entscheidung darüber verschoben, ob sie den neuen EU-Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien die gleichen Rechte wie den Beitrittsstaaten von 2004 einräumt.
In der regierungsamtlichen Euphorie sehen sich viele Iren mit ihren Ängsten kaum mehr wahrgenommen. So bleibt auch weiterhin die Frage unbeantwortet, wie sich das Verhältnis zwischen Einheimischen und Zuwanderern gestaltet, wenn das sich vor allem aus EU-Kassen speisende Wirtschaftswachstum entgegen den Erwartungen doch an Kraft verliert. Politiker, die diese „irrationalen“ Ängste offen aufgreifen, bekommen sofort Druck zu spüren.
Pat Rabbitte, der Vorsitzende der oppositionellen Labour Party, sah in einem im Januar in der Irish Times veröffentlichten Interview eine fortwährende Ersetzung irischer Beschäftigter durch Migranten in Fleischfabriken, Krankenhäusern und Bauindustrie und forderte ein strenges Kontroll-Regime aus Arbeitserlaubnissen, ausdrücklich auch für Arbeiter aus den neuen EU-Staaten. Kritiker erhoben Vorwürfe gegen Rabbitte, er bediene Vorurteile und entwerfe das Gespenst einer „polnischen Herausforderung“.
Das moderne Irland als neues Einwanderungsland entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Über Generationen hinweg war die Insel ein klassisches Auswanderungsland, dessen bittere Armut viele Iren ihrerseits zwang, sich in anderen Teilen der Welt eine neue Existenz aufzubauen.