© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/06 12. Mai 2006
Steiniger Weg zum Frieden
Nordirland: Trotz Stagnation im Friedensprozeß kehrt in der britischen Unruheprovinz allmählich Normalität ein
Daniel Körtel
Es ist Dienstagnachmittag nach Ostern. Mehr als 300 katholische Bewohner des im Norden von Belfast gelegenen Stadtteils Ardoyne versammeln sich vor einem Garden of Remembrance, einer Gedenkstätte für diejenigen, die als Kämpfer der katholischen Untergrundorganisation IRA (Irisch-Republikanische Armee) den Tod fanden oder als Zivilisten infolge von Kampfhandlungen starben. Der mehrheitlich von Katholiken bewohnte Stadtteil zählt zu den Brennpunkten im nordirischen Konflikt zwischen irisch-republikanischen Katholiken und pro-britischen Protestanten, die sich selbst als Unionisten beziehungsweise Loyalisten bezeichnen.
Der Platz vor der Gedenkstätte füllt sich mit Menschen jeden Alters. Kleinkinder haben mit orange-weiß-grünen Bändern, den Farben der irischen Trikolore, ihre Haare zum Zopf gebunden. Fast jeder Erwachsene hat sich ein papiernes Emblem in Form einer Osterlilie, Symbol der Freiheit Irlands, angeheftet. Auch IRA-Mitglieder sind anwesend. Zwei Eiswagen flankieren die Menge.
Melancholische Melodien und andächtiges Schweigen
Nicht weit vom Platz entfernt befindet sich in einer protestantischen Enklave am Ende der Ardoyne Road die katholische Mädchen-Grundschule Holy Cross. Hier eskalierte 2001 die Gewalt, als die Bewohner dieser Enklave katholische Erstkläßlerinnen mit Gewalt am Schulbesuch hindern wollten.
Dann ertönt von weitem eine Pauke. Vom unteren Ende der Straße sieht man einen Paradezug heranmarschieren, bestehend aus Fahnen haltenden jungen Männern und Frauen in militärischen Uniformen und Kampfanzügen sowie einem Spielmannszug mit Trommeln und Dudelsäcken. Zivil gekleidete Teilnehmer tragen Porträts von im Nordirlandkonflikt getöteten Angehörigen vor sich her.
Der Zug nimmt in und vor der Gedenkstätte Aufstellung. Nacheinander werden die republikanische Proklamation vom Osteraufstand 1916, der zur irischen Unabhängigkeit führte (JF 17/06), und die alljährliche Osterbotschaft der IRA verlesen.
Beim Verlesen der Namen der im Konflikt getöteten Bewohner von Ardoyne verharrt die Menge in andächtigem Schweigen, ein Flötenspieler untermalt die Szenerie mit einer melancholischen Melodie. Leichter Nieselregen fällt herab, als wolle der Himmel an der Trauer teilhaben. Hiernach werden Kränze in den Farben der irischen Trikolore niedergelegt. Eine Abordnung von Kindern, ordentlich in schwarzen Hosen und weißen Shirts gekleidet, legt jeweils eine Osterlilie nieder. Auch sie haben Angehörige zu beklagen, die in dem Konflikt starben.
Der katholische Geistliche Aidan Troy, der bei der Konfrontation um die Holy Cross-Schule in vorderster Linie stand, spricht ein Gebet. Die Schlußrede von Arthur Morgan, Abgeordneter des irischen Parlaments, ist eine selbstbewußte Demonstration der Macht seiner Partei, der linksnationalistischen Sinn Fein, die nicht nur stärkste Kraft im irisch-nationalistischen Lager Nordirlands ist, sondern auch in der irischen Republik an Bedeutung gewonnen hat.
Ein Ordner erklärt, es sei derzeit recht ruhig in Ardoyne. „Aber warten wir ab bis zum ‚Zwölften'“, fügt er hinzu. „Der Zwölfte“, das ist im nordirischen Sprachcode die Bezeichnung für den 12. Juli, wenn die jährliche Fieberkurve der Provinz am höchsten steigt. An diesem Tag feiern die Protestanten mit ihren Paraden die Schlacht an der Boyne, die 1690 den Briten die Vorherrschaft über Irland sicherte.
Die „Peacelines“ werden noch lange bestehen
Die Osterzeit markiert in Nordirland den Beginn der bis September verlaufenden Marschsaison, wenn Katholiken und Protestanten ihre Paraden zelebrieren. Sie bieten trotz des 1998 abgeschlossenen Karfreitagabkommens, das die dreißigjährige Phase der Troubles mit über 3.600 Toten beendete und den Friedensprozeß in der auch unter ihrem alten Namen Ulster bekannten britischen Unruheprovinz einleitete, immer wieder Anlaß zu Ausschreitungen.
In diesem Jahr fallen in der republikanischen Gedenkkultur zwei bedeutende Jubiläen zusammen. Die irischen Katholiken begehen neben der 90. Wiederkehr des Osteraufstandes auch den 25jährigen Jahrestag des Hungerstreiks von 1981, mit dem IRA-Mitglieder im Belfaster Maze-Gefängnis ihre Anerkennung als Kriegsgefangene zu erzwingen suchten. Der letztlich erfolglose Hungerstreik kostete zehn von ihnen das Leben.
Überlebensgroß ziert das Porträt des ersten von ihnen, des wie ein Märtyrer verehrten Bobby Sands, die Giebelwand des Sinn-Fein-Hauptquartiers in Belfast. Politische Wandgemälde dieser Art sind auf beiden Seiten weitverbreitet. Kunst oder Propaganda – der Charakter dieser Wandmalereien ist umstritten.
Sands‘ Hungertod polarisierte das Land völlig. Während fast hunderttausend Menschen seiner Beisetzung beiwohnten, bestand die damalige britische Regierungschefin Margaret Thatcher darauf, daß Bobby Sands ein verurteilter Krimineller gewesen sei, „der sich aus freien Stücken dazu entschied, aus dem Leben zu scheiden, und damit eine Wahl traf, die die IRA vielen ihrer Opfer nicht zugestand“. Der katholische Kardinal Tomás Ó Fiaich, der keinerlei Sympathien für die IRA hegte, hielt dem entgegen: „Ich kann Bobby Sands‘ Tod nicht als einen Selbstmord beschreiben. Ich kann das nicht akzeptieren.“
Südlich von Ardoyne schließt das Arbeiterviertel Shankill an, das Herz des loyalistischen Protestantismus. Die Menschen hier erkennen zwar an, daß der Friedensprozeß „einen hervorragenden Job geleistet“ hat, aber ihr Mißtrauen gegenüber der IRA ist groß. Die Räumung des benachbarten Beobachtungspostens im Hochhaus Divis Flats an der katholischen Falls Road innerhalb von zwei Tagen, nachdem die IRA im Juli vergangenen Jahres das Ende des bewaffneten Kampfes und die vollständige Demobilisierung ihres Waffenarsenals verkündete, stieß bei ihnen auf Kritik. „Das sind nur Worte, wir wollen Beweise!“ hieß es von den so überrumpelten Protestanten.
Unter den Protestanten ist die Angst groß, daß der Friedensprozeß, unterstützt von einer demographischen Verschiebung zugunsten der irischen Katholiken, zu einer Änderung des Status von Nordirland führen könne und damit die Zeit Nordirlands als „protestantischer Staat für ein protestantisches Volk“ endgültig vorüber sein wird. Aber eine Vereinigung mit der irischen Republik wird kategorisch abgelehnt. „Ulster will always remain British – Ulster wird auf immer britisch bleiben“, verkündet trotzig ein Wandgemälde an der Shankill Road.
Dieses Stimmungsbild sei, so wird immer wieder versichert, auch in den Gebieten anzutreffen, wo Katholiken und Protestanten gemischt friedlich miteinander leben. Jeder Versuch einer Änderung könne die Gefahr des sofortigen Aufflammens der Gewalt heraufbeschwören.
Dennoch stellt sich die Situation in Nordirland acht Jahre nach Verabschiedung des Karfreitagabkommens als außerordentlich ruhig und entspannt dar. Zwar kommt es nach wie vor zu als sectarian attacks bezeichneten politisch-religiös motivierten Gewalttaten zwischen den Konfessionen.
Auch wird in Belfast den dreizehn sogenannten peacelines – Mauern, die vor allem im Westen der Stadt zwischen den Wohngebieten von Katholiken und Protestanten verlaufen – eine lange Zukunft beschieden. Doch im Vergleich zu den vergangenen Jahren, als sich die Waffenruhe sehr fragil zeigte, ist der Gewaltpegel spürbar gesunken und ein Wandel zu mehr Normalität unübersehbar.
Stagnation im politischen Sektor
Das deutlichste Anzeichen hierfür ist neben der steigenden Zahl von Touristen die stetig zunehmende Einwanderung vor allem aus dem asiatischen und osteuropäischen Raum. Letztere Entwicklung rief dann wiederum loyalistische Paramilitärs auf den Plan, die diese Einwanderer aus ihren Gebieten oftmals zu vertreiben versuchen. Neben den sectarian attacks ist mit „Haßverbrechen“ gegen Einwanderer und auch Homosexuelle eine neuerliche Form politisch-religiös motivierter Gewalt aufgekommen.
Der entspannteren Situation im Alltag steht die Stagnation im politischen Prozeß gegenüber. Nachdem unhaltbare Vorwürfe erhoben wurden, die IRA betreibe im Parlament einen Spionagering, wurden das Regionalparlament und die von einer Mehrparteienregierung getragene Autonomieregierung im Oktober 2002 suspendiert. Aus den im November 2003 abgehaltenen Wahlen ging die DUP (Democratic Unionist Party) des extrem anti-katholischen Pfarrers Ian Paisley, der das Karfreitagsabkommen wiederholt als „tot“ bezeichnete, als stärkste Kraft im protestantischen Lager und als stärkste Partei Nordirlands überhaupt hervor.
Eine nach wie vor gespaltene Gesellschaft
Vor diesem Hintergrund versuchen der britische Regierungschef Tony Blair und sein irischer Amtskollege Bertie Ahern mit einer neuen Initiative dem Friedensprozeß neuen Schub zu verleihen. Sie haben dem für den 15. Mai neu einberufenen Regionalparlament eine „letzte Frist“ bis spätestens November gesetzt, um eine neue Regierung zu bilden. Sollte bis dahin keine Übereinkunft erzielt worden sein, wird Nordirland künftig gemeinsam von London und Dublin regiert.
Zu den intellektuellsten Köpfen der republikanischen Bewegung gehört zweifellos Danny Morrison. Der heute 53jährige erlangte während der Troubles Bekanntheit, als er 1981 als Pressechef der Sinn Fein die inzwischen legendäre Losung ausgab, „den Krieg mit dem Stimmzettel in der einen Hand und der Armalite (automatisches Gewehr) in der anderen“ gewinnen zu wollen.
Im Sinne dieser Strategie nahm die Sinn Fein fortan zwar an Wahlen teil, nahm aber lediglich ihre Sitze in den kommunalen Vertretungen ein. Was damals Empörung auslöste, stellte sich im nachhinein als die stückweise Abkehr von einem als aussichtslos erkannten bewaffneten Kampf dar.
Nachdem Morrison wegen IRA-Aktivitäten zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, arbeitet er seit seiner Freilassung 1995 als Schriftsteller und Journalist. Im Gespräch mit der JUNGE FREIHEIT in seinem Haus in West-Belfast erklärt er, eine Änderung des Status von Nordirland mache derzeit keinen Sinn. Die Republikaner müßten Kompromisse eingehen. „Warum“, fragt Morrison, „können nicht auch andere Formen einer Vereinigung mit Irland diskutiert werden, zum Beispiel eine Föderation oder Konföderation?“
Den größten Erfolg des Friedensprozesses sieht Morrison in der Tatsache, „daß die Zeiten vorbei sind, daß Menschen wie ich in ihrem eigenen Land als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden“. Das Karfreitagabkommen sieht Morrison keineswegs als tot an, und er glaube auch nicht, daß Paisley so denkt. „Paisley ist ein Feigling“, der die jüngste Initiative zur Wiederaufnahme des Friedensprozesses nicht scheitern lassen werde, da ihm sonst die Schuld zugeschoben werde.
In den kommenden Verhandlungen müsse Sinn Fein aber „sehr, sehr vorsichtig“ mit der britischen und irischen Regierung sein, damit das Abkommen nicht geändert wird, um es der DUP leichter zu machen. Man sei bereit, Paisleys Stellvertreter Peter Robinson als künftigen Regierungschef zu akzeptieren, aber auf keinen Fall den wegen seiner „Bigotterie“ bei den irischen Nationalisten verhaßten Paisley.
Über das künftige Verhältnis der Republikaner zu den Unionisten meint Danny Morrison: „Es ist in unserem Interesse, Freundschaft mit den Unionisten zu halten, um ihnen einen Platz im vereinigten Irland zu geben.“ Denn, so Morrison: „Die Unionisten sind Iren!“ Doch so aufrichtig Morrisons Angebot auch sein mag, steht angesichts der gegenseitigen blutigen Gewalterfahrung der vergangenen Jahrzehnte kaum zu erwarten, daß es eine andere Erwiderung erfährt als die schroffe Ablehnung. Auch kommt für die Unionisten eine Aufgabe ihrer britischen Identität zugunsten der irischen kaum in Frage.
Nordirlands Zukunft ist offen. Es bleibt abzuwarten, ob sich das Land zu einer zwar friedlichen, aber entlang der konfessionellen Grenzen nach wie vor gespaltenen Gesellschaft hinbewegt, oder ob es den Politikern gelingt, die Nordiren davon zu überzeugen, daß die beste Zukunft der Provinz nur eine gemeinsame sein kann.
Auf diese Zukunft angesprochen, meint ein älterer Taxifahrer aus Shankill, der den Nordirland-Touristen historische Stadtrundfahrten durch Belfast anbietet: „An dem Tag, an dem alle diese Wandmalereien und peacelines verschwunden sind, werden alle Nordiren fröhlich im Pub sitzen. Aber ich erwarte nicht, daß dieser Tag noch zu meinen Lebzeiten kommt.“
Stichwort: Karfreitagsabkommen
Das Good Friday Agreement – auch als Belfast oder Stormont Agreement bekannt – wurde am 10. April (Karfreitag) 1998 von den Regierungen Großbritanniens und Irlands sowie der überwältigenden Mehrheit der nordirischen Parteien unterzeichnet. In getrennten Volksabstimmungen wurde es in der Republik Irland sowie Nordirland ratifiziert. Bestandteile des Abkommens: Streichung des Anspruchs auf die sechs nord-irischen Grafschaften aus der Verfassung der Republik Irland; Selbstverwaltung Nordirlands durch ein eigenes Parlament; Schaffung grenzüberschreitender Institutionen; Entwaffnung der paramilitärischen Organisationen sowie die Umgestaltung der nordirischen Polizei.