© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023
Fast ein kleines Wunder
Nordirland: Vor 25 Jahren beendete das Karfreitagsabkommen den Bürgerkrieg in der britischen Unruheregion
Daniel Körtel
Die „Internationale Mauer“ in Belfast, an der mitten in der irisch-katholischen Hochburg der Stadt die Divis Street und die Falls Road ineinander übergehen, ist eine Sehenswürdigkeit, die kaum ein Tourist ausläßt. Abwechselnde Wandmalereien verbreiten darauf Propagandabotschaften der irisch-republikanischen Bewegung und der mit ihnen verbundenen sogenannten „Freiheitsbewegungen“ der Palästinenser und Kurden, wie auch des kommunistischen Regimes auf Kuba. Es ist der Nachmittag des Karsamstags, als sich hier die traditionelle Osterparade der Republikaner in Bewegung setzt.
In der irischen Geschichte besitzt Ostern eine über seinen christlichen Bezug weit hinausreichende Bedeutung. Sie verbindet sich mit dem Opfergang irischer Freiheitskämpfer, die Ostern 1916 von Dublin aus den Aufstand gegen die britische Oberherrschaft probten. Trotz seines Scheiterns wurde der Osteraufstand zur Initialzündung eines Guerillakrieges, an dessen Ende 1922 die Unabhängigkeit Irlands stand, aber auch die Teilung der Insel in einen katholischen Süden und das weiterhin zu Großbritannien zugehörige, mehrheitlich von Protestanten bewohnte Nordirland.
Den ersten Teil der Kolonne bildet eine Abteilung Männer und Frauen im Marschtritt, in schwarz-grauer Uniform, mit Barett und Sonnenbrille, die irische Trikolore vorantragend, gefolgt von den Flaggen der vier irischen Provinzen. Des weiteren folgen sechs Kinder, die jeweils eine Osterlilie tragen, das Symbol der irischen Freiheit, und ein Porträt eines der 1916 von den Briten hingerichteten Anführers des Osteraufstands. Nach ihnen kommt eine kleine Abordnung der „Antifa“, ausstaffiert wie der „Schwarze Block“, zwischendurch Bengalos zündend. Den Abschluß bildet ein Spielmannstrupp und eine Gruppe aus Angehörigen linksnationalistischer Kämpfer und Aktivisten.
„Die vergangenen 25 Jahre waren besser als die 25 Jahre davor“
Der martialische Aufzug steht in einem denkbaren Kontrast zur übrigen Stimmung in der einstigen britischen Unruheprovinz. Zu Ostern dieses Jahres wird vielfach an das zu Karfreitag 1998 zwischen den Konfliktparteien ausgehandelte Karfreitagsabkommen gedacht, mit dem der 1969 zwischen irisch-katholischen Nationalisten und pro-britischen Protestanten ausgebrochene Bürgerkrieg beendet wurde. Die auch als „Troubles“ bekannten Auseinandersetzungen kosteten weit über 3.000 Menschenleben.
Wie blicken die Provinzbewohner auf die vergangenen 25 Jahre seit Abschluß des Karfreitagsabkommens zurück? Sean, der als Fahrer eines „Black Cab“ – jener schwarzen Taxiflotte, die in den Hochzeiten des Bürgerkriegs den Nahverkehr aufrechterhielt, weil der Busverkehr in den Hotspots infolge der Gewalttätigkeiten zusammenbrach und heute unter anderem Touristenführungen durchführt – ist sichtlich zufrieden: „Die vergangenen 25 Jahre waren besser als die 25 Jahre davor.“ Der Mittfünfziger aus der katholischen Siedlung Ardoyne erinnert sich noch gut an die Zeiten, als er nur durch Käfigschleusen und Leibesvisitationen durch britische Soldaten in die Innenstadt gelangen konnte. Die Sicherheitssituation in der nordirischen Provinzhauptstadt habe sich stark verbessert. Ebenso die soziale Lage der nordirischen Katholiken, die zu den Protestanten aufgeschlossen haben. Hier hebt Sean besonders hervor, daß Stellenbewerber keine diskriminierenden Auskünfte zu ihrer religiösen Identität mehr geben müßten.
Daß nach 25 Jahren Friedensprozeß in Nordirland Grund zum Optimismus besteht, ist fast schon ein kleines Wunder. Krisen im Verhältnis der Parteien untereinander führten mehrfach zum politischen Kollaps, so daß zwischendurch anstelle der Regionalregierung wieder London die Kontrolle übernehmen mußte. Doch 2007 kam es zu sogar zu einer gemeinsam von dem rabiaten Protestantenprediger Ian Paisley als „Erstem Minister“ und dem früheren IRA-Kommandanten Martin McGuinness als seinem Stellvertreter geführten Allparteienregierung; eine bis dahin undenkbar gehaltene Verbindung zweier einstiger Erzfeinde, aus der sogar eine persönliche und familiäre Freundschaft beider Protagonisten wurde, wenngleich nicht vor den Kameras.
Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, die ohne die ausufernde konfessionell unterlegte Gewalt und die permanente Präsenz britischer Truppen aufgewachsen ist, für die der reformierte Polizeidienst PSNI eine Polizei wie jede andere darstellt und nicht als verlängerter bewaffneter Arm der protestantischen Herrschaft. Ihnen eröffneten sich tatsächlich vollkommen andere Möglichkeiten als den Generationen vor ihnen. Gleichwohl, der Schulsektor ist nach wie vor in konfessioneller Hand.
Die Mehrheit in der Region lehnt den Brexit ab
Mittlerweile haben sich die politischen Verhältnisse jedoch gedreht. Die Veränderungen in der Demographie haben die einstige Dominanz des protestantischen Lagers gebrochen. Aus den Regionalwahlen von 2022 ist die linksnationalistische Sinn Féin („Wir selbst“) als stärkste Kraft hervorgegangen, mit dem Anspruch ihrer Spitzenkandidatin Michelle O’Neil auf das Amt des Ersten Ministers. Doch die DUP (Democratic Unionist Party) verweigert den dazu nötigen Eintritt in die Allparteienregierung. Die von innerparteilichen Streitigkeiten und Skandalen geschüttelte DUP hat als No-Partei offenbar bis heute noch nicht in eine neue Rolle unter den geänderten Bedingungen gefunden.
Hinzu kommen die Auswirkungen des Brexits, der im Referendum von 2016 mehrheitlich in der Provinz abgelehnt wurde. Die Dinge geraten danach in Bewegung, und erstmals macht sich das republikanische Lager Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem Süden der irischen Insel. Er wisse nicht, was kommen werde, so Sean. Aber: „Change is coming – eine Änderung kommt.“
Zur Feier des Karfreitagsabkommens erwartet Nordirland hohen Besuch. Am vergangenen Dienstag kam US-Präsident Joe Biden zum Auftakt einer viertägigen Irland-Visite nach Belfast. Ihm folgen sein Amtsvorgänger Bill Clinton mit seiner Frau Hillary, die sich damals mit dem US-Sondervermittler George Mitchell entscheidend in den Verhandlungen engagiert haben. Nach den Desastern im Irak und Afghanistan haben die Amerikaner die Erinnerung an frühere Erfolge bitter nötig. Zu ihnen gesellt sich der damalige britische Premier Tony Blair, der den Frieden in Nordirland anfangs einen „unperfekten Frieden“ nannte. Auch er hat angesichts seiner ihm von den Briten nach wie vor nachgetragenen Beteiligung am Irak-Krieg der USA den strahlenden Glanz früherer Erfolge bitter nötig.
Schreibe einen Kommentar