© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/02 18. Oktober 2002
Die Deutschen liebten diese Insel
Reise: Irland im Wandel / Supermarkt-Ketten bedrohen den traditionellen Charme
Martin Lohmann
Sicherlich ist Irland nicht das klassische Reiseziel der Deutschen, die es traditionell eher in wärmere Gefilde zieht. Denn wer sonnenhungrig die grüne Insel im Atlantik besucht, wird nicht selten von hartem Regen empfangen. Und dennoch sind es nicht wenige Deutsche, die, fasziniert von dieser Insel, ihr Herz an sie verloren haben. Es scheint, als ob die Seiten der keltischen Harfe, dem irischen Nationalsymbol, eine besondere Resonanz in der von Romantik bestimmten deutschen Seele hervorrufen.
Es ist nicht allein die natürliche Freundlichkeit der Iren, die so anziehend wirkt und an der sich in Deutschland viele Menschen ein Vorbild nehmen können, auch lockt der mystische Abglanz einer großen keltischen Vergangenheit und der frühchristlichen Zeit, in der irische Mönche das antike Erbe Europas bewahrten und von hier aus den Kontinent christianisierten. Zahlreiche Klosterruinen zeugen von dieser kulturellen Blütezeit, in der Irland als die Insel der Heiligen und Weisen galt, während Europa im dunklen Mittelalter versank. Der englische König Alfred rühmte seinerzeit die Iren als ein „ernstes Volk“ mit „Priestern und Laien im Überfluß“. Ihr jähes Ende fand diese Epoche mit den Beutezügen der Wikinger und der anglo-normannischen Invasion, die Irland 700 Jahre lang unter die koloniale Knechtschaft Englands brachte.
Immer wieder faszinieren die Landschaften Irlands, von denen sich die eindrucksvollsten im „wilden Westen“ der Insel befinden, wo noch das Gälische, die irische Ursprache, gepflegt wird. Ob die spektakulären Steilklippen von Moher, die Stille und Einsamkeit Connemaras oder die bizarre Felslandschaft des Burren, dessen Kargheit im Frühjahr von Orchideen und im August von blühenden Wildpflanzen unterbrochen wird – hier zeigt sich Irland von seiner schönsten Seite und zieht jeden in seinen Bann. Dennoch kann von der in Prospekten beschriebenen „unverdorbenen Natur“ keine Rede sein. Irlands Antlitz ist das Produkt eines gewaltigen Raubbaus an seinen natürlichen Ressourcen. Galt die Insel noch vor 500 Jahren als eines der waldreichsten Gebiete Europas, so hat der Holzeinschlag für die englische Flotte und die Umstellung auf die Viehwirtschaft nicht mehr viel davon übrig gelassen. Zu Beginn der Unabhängigkeit 1921 war nur noch ein Prozent der irischen Fläche mit Wald bedeckt. Mühsam wurde der Anteil inzwischen auf sechs Prozent hochgetrieben, allerdings mit seltsam deplaziert wirkenden Plantagen von Nadelbäumen, die nie ein Bestandteil irischer Ökologie waren.
Irlands Tourismus befindet sich heute in einer schweren Krise. Ende September wurden vorab Einzelheiten aus einer Studie der Irish Tourist Industry Confederation bekannt, wonach sich der Tourismus nach mehr als zehn Jahren unaufhörlichen Wachstums an einem Wendepunkt befinde. Durch die Preisentwicklung, die im Tourismusgewerbe schneller voranschreite als die durchschnittliche Inflation, sei Irland als Reiseziel nicht länger wettbewerbsfähig. Während 1995 in einer Befragung zwei Drittel aller europäischen Besucher Irland als preiswert befanden, fiel dieser Anteil 2001 auf ein Drittel. Zahlreiche traditionelle Handwerker haben sich bereits nach anderer Arbeit umgesehen. Einzig der Sektor Bed & Breakfast blieb mit einem Durchschnittspreis von 25 Euro stabil. Besorgt bezeichnete Tourismusminister John O’Donoghue die Studie als einen „Weckruf“.
Langfristig drohen aber noch andere Entwicklungen, die Irlands Ruf als attraktives Reiseziel schweren Schaden zuzufügen können. Die deutschen Handelskonzerne Aldi und Lidl proben die Invasion der Insel, und andere Ketten werden mit Sicherheit nachziehen. Es sieht ganz danach aus, als ob hier die gleichen Fehler wiederholt werden, die Deutschland mit dem Verlust der „Tante-Emma“-Läden schon lange hinter sich gelassen hat. Zahlreiche inhabergeführte Geschäfte, die mit ihrer Vielfalt und ihren schmucken Fassaden selbst die kleinsten Orte lebendig erhalten und Irland einen seiner sympathischsten Züge verleihen, werden diese Konkurrenz nicht überleben. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis Irlands Ortschaften infolge dieses nivellierenden Strukturwandels ein austauschbares und eintöniges Gesicht erhalten werden.
Der Wandel Irlands ist auch auf anderen Ebenen offenkundig. Die Familien werden kleiner, die Häuser größer und die einstmals mächtige katholische Kirche gehört nach einer Reihe peinlicher Sexskandale ihres Klerus in den Städten nicht mehr zu den tragenden Säulen der Gesellschaft. Der typische Geruch von verbranntem Torf, mit dem noch oft geheizt wird, wird dank des Ausbaus des Gasversorgungsnetzes auch bald der Vergangenheit angehören. Hinzu kommt, daß die klassische Auswanderernation einer verstärkten Einwanderung ins Auge sehen muß. Ausgelöst durch den wirtschaftlichen Aufschwung der neunziger Jahre, in denen die irische Regierung EU-finanzierte Standortvorteile zum Niedrigpreis anbot, holt der „keltische Tiger“ nun jene zweifelhafte Modernisierung nach, von der man sich wünschte, sie wäre dem Land erspart geblieben.