Irland-Journal, XIX, 4.2008
Die irischen Kinder des Papstes
Die demographische Entwicklung war für Irland immer schicksalbestimmend
Von Daniel Körtel
In seiner Erzählung Irisches Tagebuch von 1957 schildert Heinrich Böll die Zukunftserwartungen der 17jährigen Siobhan, dem ältesten von neun Kindern der Mrs. D. Nur für sie bestand – neben zwei bis drei ihrer Geschwister – die Aussicht auf Heirat und Auskommen in der irischen Heimat. Den übrigen stand zwangsläufig bereits im Jugendalter das Schicksal der Auswanderung bevor, nicht allein um des eigenen Überlebens wegen, sondern auch um mit Überweisungen die zurückgebliebene Verwandtschaft zu unterstützen. Derartige Familien mit mehr als fünf Kindern waren in Irland früher die Norm, mehr als zehn Kinder durchaus nicht ungewöhnlich.
Kinderreichtum, bittere Armut und Auswanderung waren seit jeher kennzeichnend für die grüne Insel am nordwestlichen Rand Europas. Erst mit dem beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg Irlands zum „Keltischen Tiger“ änderte sich das.
Read MoreJede historische Rückschau der irischen Demographie muss bei der Great Famine ansetzen, der Großen Hungersnot von 1845-49, die sich wie kein anderes Ereignis traumatisch in das kulturelle Gedächtnis der Iren eingebrannt hat. Die überreiche Verfügbarkeit von Torf als Brennstoff und der Aufstieg der robusten Kartoffelpflanze zum Grundnahrungsmittel ließ bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung Irlands auf über 6,5 Millionen ansteigen. Die übervölkerte Insel war damit das am dichtesten besiedelte Land Europas. Doch durch die Vernichtung mehrerer Kartoffelernten durch die aus Amerika eingeschleppte Braunfäule verhungerte eine Million Iren und trieb in der folgenden Dekade zwei weitere Millionen nach Übersee und Großbritannien. Es dauerte nicht lange und im Ausland lebten mehr Iren als in Irland selbst.
Vor allem im dünn besiedelten Westen der Insel können Touristen in verlassenen Häusern und Dörfern die steinernen Zeugen dieser entvölkernden Katastrophe besichtigen. Die beklemmenden Ruinen und Geisterorte vermitteln bis heute einen tiefen Eindruck von der Resignation, die ihre einstigen Bewohner aus ihnen hinaus vertrieben hat.
Bemerkenswerterweise sorgte der traditionelle irische Katholizismus dafür, dass sich die Auslands-Iren in ihren Bewusstsein als ein leidgeprüftes „auserwähltes Volk“ nicht restlos in den vornehmlich protestantischen Zielländern ihrer Diaspora auflösten. Stattdessen hielten sie ihre Herkunftsidentität aufrecht und schufen so Netzwerke, die Neuankömmlingen den Start in der Fremde erleichterten.
Durch die der Hungersnot nachfolgende Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion hielt die Armut im Land weiter an. Rohstoffmangel, die Entfernung zu den Märkten und britischer Kolonialismus verhinderten den Anschluss an die industrielle Revolution. Der Zeitpunkt, bei dem Ehen geschlossen wurden, verschob sich und viele Männer blieben Junggesellen, weil sie keine Familie ernähren konnten. Der Exodus aus Irland weiter an und ließ die Einwohnerzahl trotz hoher Geburtenraten bis 1961 auf den historischen Tiefstand von 2,8 Millionen fallen.
Die Gründe für die hohen Geburtenraten waren einerseits wirtschaftlicher, andererseits kultureller Natur. Mangels einer staatlichen Sozialfürsorge waren Kinder die einzige Altersvorsorge. Entsprechend mussten Familien mit vielen Geburten der hohen Kindersterblichkeit entgegenwirken. Zum anderen unterband nach der Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien (1921) der dominierende gesellschaftliche Einfluss des katholischen Klerus die Einführung jeder der kirchlichen Dogmatik zuwiderlaufenden Familienplanung. Die Rolle der Frau blieb auf das familiäre Umfeld beschränkt. Kontrazeptiva sind erst seit 1993 frei erhältlich. Das fast unumschränkte Verbot der Abtreibung hat bis heute Verfassungsrang.
Erst die Reformmaßnahmen, die ab 1957 die wirtschaftliche Isolation Irlands aufbrechen sollten, führten zu einer leichten Hebung des allgemeinen Lebensstandards. Kehrten bis 1961 wöchentlich 1000 Iren ihrem Land den Rücken, so wurde Irland erstmals für Rückwanderer attraktiv. Irland wurde nun die fruchtbarste Nation Europas. 1970 setzte eine Steigerung der Geburtenrate ein, die im Juni 1980 ihren Höhepunkt erreichte – neun Monate nach der historischen Visite Papst Johannes Paul II. in Irland. Der in dieser Phase angelegte Überhang geburtenstarker Jahrgänge – auch als „The Pope’s children“ („die Kinder des Papstes“) bezeichnet – sollte sich als die entscheidende Basis für das Wirtschaftswunder der 1990er Jahre erweisen.
Der Ölkrise von 1973 folgte eine lang anhaltende wirtschaftliche Stagnation bei steigender Bevölkerungszahl. Irland wies damals die jüngste Bevölkerungsstruktur Europas auf: 1985 betrug der Anteil der bis 25jährigen 45 Prozent der Gesamtbevölkerung, 30 Prozent waren jünger als 15 Jahre alt. Doch die berufliche Perspektivlosigkeit bei einer Arbeitslosenquote von fast 20 Prozent trieb die Auswanderung auf ein neues Höchstmaß.
Einschneidende staatliche Maßnahmen des Program for Prosperity and Fairness bereiteten ab 1987 die Trendwende vor. Steuersenkungen bei gleichzeitiger Kürzung staatlicher Ausgaben, Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und die weitere wirtschaftliche Öffnung Irlands durch den EU-Binnenmarkt machten Irland als Niedriglohnland attraktiv.
Der Erfolg blieb nicht aus. Vor allem die Ansiedlung internationaler Hitech-Konzerne führte eine verspätete Modernisierung des einstigen Agrarlandes zu einem exportorientierten Industrieland herbei. 1992 war der „Keltische Tiger“ endlich erwacht. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts wuchsen weit über dem EU-Durchschnitt, während die Arbeitslosigkeit bis 2001 auf 3,8 Prozent sank.
Sicherlich wäre dieses beispiellose Wirtschaftswunder ohne die Reformbereitschaft der politischen Eliten nicht denkbar und ohne die Strukturbeihilfen aus Brüssel nicht finanzierbar gewesen. Doch all diese Maßnahmen hätten nicht diese enorme Dynamik entfaltet, hätte Irland nicht auf seinen bedeutendsten Standortvorteil zurückgreifen können: die üppigen Potentiale einer gut qualifizierten und hoch motivierten Jugend.
Die Auswanderung hatte seit 1993 ein Ende, aber die Zeiten hoher Geburtenraten gehörten ebenfalls der Vergangenheit an. 2006 lag die durchschnittliche Kinderzahl mit 1,93 Geburten pro Frau knapp unter dem bestandserhaltenden Niveau von 2,1.
Auch vertiefte der Wirtschaftsboom die aus der Landflucht entstandene Spaltung der Republik in den bevölkerungsstarken Großraum um die Hauptstadt Dublin, die nun das prosperierende Herzstück darstellt, und einen unterentwickelten ländlichen Raum. Im Radius von 100 Kilometern um Dublin leben heute rund 40 Prozent der Einwohner der Republik Irland.
Und noch eine bedeutende Verschiebung vollzog sich in der Bevölkerungsstruktur: Irland wurde vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland. Die Volkszählung von April 2006 ergab bei einer Einwohnerzahl von 4,23 Millionen einen Ausländeranteil von rund zehn Prozent. Die überwiegende Mehrheit der Zuwanderer stammt aus der EU, vor allem aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten, für die Irland seinen Arbeitsmarkt vorbehaltlos öffnete. Viele von ihnen nutzen die günstigen Flugverbindungen zur Pendlerimmigration. Nigerianer und Chinesen stellen weitere bedeutende Gruppen.
Das Tempo des gegenwärtigen Bevölkerungswachstums wird bislang größtenteils von der Zuwanderung vorgegeben. Sollten diese Trends anhalten, könnte nach den Prognosen des irischen Statistikamtes CSO die irische Bevölkerungszahl innerhalb von 25 Jahren wieder den Stand vor der Großen Hungersnot einnehmen.
Im gleichen Zug verändert sich auch das religiöse Gesicht Irland. Mit 32.500 Anhängern ist die Zahl der Muslime gegenüber 3,7 Millionen Katholiken noch recht bescheiden, doch damit hat der Islam innerhalb weniger Jahre nach den Protestanten (125.585) zur drittgrößten Religion aufgeschlossen. Zwar ist Irland weit entfernt von ethnisch-kulturellen Konflikten wie in Frankreich, doch der vor drei Jahren ausgetragene Streit darüber, ob die Anhänger der indischen Sikh-Religion auch im Polizeidienst ihren religiös verpflichtenden Turban aufbehalten dürfen, zeigt an, dass die kontinentaleuropäischen Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung der Integration auch in Irland angekommen ist.
Doch mit Besorgnis werden die zunehmenden Spannungen in den Slums von Nord-Dublin wahrgenommen, in die in den vergangenen zwei Jahren viele Polen, Litauer und Letten zugezogen sind. Fremdenfeindliche Übergriffe vor allem auf Afrikaner und Asiaten häufen sich. Beobachter fühlten sich an die Zeiten der nordirischen Unruhen erinnert, als Ende Juli eine Jugendgang chinesische Familien aus ihren Quartieren in der Dubliner Innenstadt vertrieb.
In der gegenwärtigen Rezession, mit der die ökonomische Aufholjagd ihren Schlusspunkt gefunden hat, finden sich wenig Anzeichen dafür, dass es trotz eines steilen Rückgangs der Einwanderung zu einem Massenexodus kommt. Alles deutet darauf hin, dass die schon hier lebenden Einwanderer auch bleiben werden.
Bevölkerungszuwachs und Zuwanderung stellen den irischen Staat nun vor die gewaltige Herausforderung, seine Infrastruktur in den nächsten Jahren auf die kommende Entwicklung hin anzupassen. Die politischen Parteien und Arbeitgeberverbände werben beim eigenen Volk für die Akzeptanz der Zuwanderung als notwendig für den Erhalt des Wirtschaftswachstums, während die Gewerkschaften zurückhaltender agieren.
Das offizielle Irland präsentiert sich den Neubürgern als weltoffen und tolerant und stellt dem engen romantischen Nationalismus von Patrick Pearse den universalistischen Republikanismus eines Wolf Tone gegenüber: „Ire ist, wer Ire sein will“, ungeachtet seiner ethnischen Herkunft. Auch die Katholische Kirche schließt sich dieser Botschaft an und weist die Gläubigen dezent darauf hin, dass auch der Nationalheilige St. Patrick kein waschechter Ire war, sondern aus Wales stammte. Hier zeigt sich die Bedeutung der Kirche als Transmissionsriemen für die Integration vor allem der katholischen Zuwanderer aus Osteuropa, für die gerade in der Fremde ihre religiösen Traditionen eine besondere Rolle als emotionaler Halt spielen.
Aber ob das irische Volk bereit ist, diesen Mentalitätswechsel zu einer multikulturellen Einwanderernation zu akzeptieren und nachzuvollziehen, ist noch eine offene Frage. Das exklusive Selbstverständnis der Iren, das sich über die Jahrhunderte aus der abschottenden Inselmentalität und den Erfahrungen kolonialer Unterdrückung gebildet hat, wird sich kaum über wenige Jahre abbauen lassen. Erst recht nicht in Anbetracht der kommenden Jahre, die die Wettbewerbsfähigkeit der irischen Wirtschaft auf eine harte Probe stellen werden. Schon jetzt lassen nicht wenige Iren die Zuwanderer spüren, dass sie ihnen als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt kaum willkommen sind. Auch der Blick in die britische Nachbarschaft mit ihren enormen Integrationsproblemen dürfte keineswegs Euphorie auslösen.
Publizistisches Störfeuer gegen die Neudefinition Irlands als Einwanderungsland kommt vor allem von Kevin Myers, dem rechtsliberalen Kolumnisten des Irish Independent, der in scharfen und sarkastischen Beiträgen die Klage erhebt, dass eine offene Debatte über die Zuwanderung bislang unterbleiben sei, weil jede Kritik daran unter dem drohenden Verdikt des Rassismusvorwurfs stehe.
Das CSO hat im August neue überraschende Daten veröffentlicht, die nach Ansicht von Garret FitzGerald, dem für Demographiefragen zuständigen Korrespondenten der Irish Times, die Notwendigkeit weiterer Zuwanderung relativieren: demzufolge erfährt derzeit die Republik die höchste indigene Geburtenrate seit 25 Jahren, einschließlich eines unerwarteten Heiratbooms. Diese Trendumkehr lässt sich vor allem auf die Altersklasse der Frauen von 30 bis 39 zurückführen. Diese Gruppe nutzte wie keine andere die durch den Wirtschaftsaufschwung gewonnenen Freiheiten für eine erfolgreiche Teilhabe an Wohlstand und beruflicher Selbstverwirklichung und scheint jetzt in Erwartung des biologischen Endpunkts für eine Schwangerschaft neue Prioritäten zu setzen.
Mit biologischer Torschlusspanik alleine dürfte der neue Trend zu mehr Kindern nicht erklärt sein. Berücksichtigt werden müssen auch andere, psychologische und kulturelle Faktoren wie die optimistischere Grundhaltung des irischen Volkes – im Gegensatz zu den pessimistischeren Deutschen – und die Macht der irischen Tradition. Über Jahrhunderte hinweg wuchsen die Iren in Großfamilien auf und reproduzierten dabei unbewusst dieses Modell. Immerhin wünscht sich im Schnitt jede irische Frau drei Kinder.
Irland ist, was sein Humankapital angeht, für die Zukunft bestens aufgestellt. Ihr juveniler Charakter wird der Nation noch lange erhalten bleiben. Entscheidend ist, wie es damit umgeht. Skepsis ist hierbei angebracht, denn der Einzug der Moderne hat die traditionellen Familienstrukturen unter einen massiven Druck gesetzt. Vom seit 1996 bestehenden Scheidungsrecht machen viele Ehepaare ausgiebig Gebrauch. Und wo beide Elternteile einer Erwerbsarbeit nachgehen, bleibt weniger Zeit für die Erziehung des Nachwuchses. Jugendverwahrlosung und –Kriminalität als der irischen Gesellschaft bislang unbekannte Phänomene sind hierfür ernstzunehmende Indikatoren. Für das Problem, die Anforderungen der modernen Arbeitswelt mit den Bedürfnissen der Familien unter einen Hut zu bekommen, hat auch Irland noch keine optimale Lösung gefunden.
Zum Autor: Daniel Körtel ist 38 Jahre alt und im Brotberuf Chemielaborant, er wäre aber lieber Reiseschriftsteller und –fotograf geworden. In Irland – seiner Leidenschaft – war er seit 2002 bereits neun Mal und hat dabei recht aufregende Dinge mitgemacht, z.B. Pilgerreisen zum Lough Derg oder den Reek Day auf dem Croagh Patrick.
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