© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022
Der irische Knoten
Nordirland: Nach der Regionalwahl ringt die britische Provinz um die Zukunft ihrer Grenze zur EU
Daniel Körtel
Die nahe der Grenze zur Republik Irland gelegene nordirische Kleinstadt Armagh ist das religiöse Zentrum der großen Kirchen Irlands. Auf einem Hügel befindet sich die St Patrick’s Cathedral, ein mittelalterlicher Kirchenbau, der auf der ersten, 445 n. Chr. von dem Inselmissionar St. Patrick errichteten Steinkirche gründet und der der anglikanischen Church of Ireland untersteht. Der Nordirland-Konflikt ging nicht spurlos an ihr vorüber; 1957 zerstörte eine nahe gelegene Bombenexplosion der IRA sämtliche Kirchenfenster ihrer Südseite.
Ihr gegenüber steht in Sichtweite auf einem Nachbarhügel die ebenfalls nach Patrick benannte, wesentlich imposantere nach gotischem Vorbild im 19. Jahrhundert erbaute katholische Kathedrale. Die Bedeutung Armaghs für die Kirchen Irlands wird noch zusätzlich als Sitz ihrer jeweiligen Oberhäupter unterstrichen.
William, der nicht mit seinem echten Namen zitiert werden will, arbeitet für eine der beiden Kirchen. Die Beziehungen zwischen beiden Konfessionen seien ausgezeichnet. Nur auf politischer Ebene seien Differenzen vorhanden, über die man aber im Alltag nicht spreche. Die Stadt sei hauptsächlich nationalistisch, also pro-irisch, eingestellt, während das Umland – vor allem die Landwirte – loyalistisch zur Union mit Großbritannien steht.
Kaum noch Vertrauen in Londons Nordirlandpolitik
Auch fast zwei Jahre nach dem Brexit herrsche Ratlosigkeit, wie sich der künftige, noch umstrittene Status der Provinz Nordirland im Verhältnis zur EU gestalten soll. Die Folgen seien bereits im Alltag angekommen, vor allem durch die Lieferschwierigkeiten bei medizinischen Produkten, die durch die Güterverkehrskontrolle durch die Irische See im Hafen zurückgehalten werden. Dennoch, eine harte Grenze als Zukunft Nordirlands mag William sich nicht vorstellen. Auch eine Wiedervereinigung mit dem Süden hält er für unrealistisch, da die Nordiren kaum die Vorteile des kostenlosen NHS (National Health Service), des staatlichen Gesundheitsdienstes, aufgeben wollten. Jedoch: „Brexit is a mess – der Brexit ist ein Chaos“, bringt William seine Frustration auf den Punkt.
Als die britischen Wähler im Juni 2016 in einem knappen Referendum den Brexit beschlossen, „entzündeten sie eine massive existentielle Explosion innerhalb der schon brennenden politischen Atmosphäre in Nordirland“. Die sich in den folgenden Jahren daraus ergebende Dynamik droht teilweise sogar ihre Urheber zu verschlingen: Nordirlands führende Unionistenpartei DUP (Democratic Unionist Party) hoffte im Brexit die Bindung an Großbritannien zu verstärken. Doch in der nordirischen Regionalwahl vom vergangenen Mai verdrängten die Wähler sie mit einem historischen Machtverlust von der Spitze.
An führender Stelle könnte künftig stattdessen, etwas mehr als 100 Jahre nach der politischen Trennung Irlands, mit Michelle O’Neill erstmals einen Premierminister bekommen, der von der Sinn Féin (SF) gestellt wird, dem früheren politischen Arm der irisch-nationalistischen Untergrundbewegung IRA. Allein, die notwendige Voraussetzung – der Eintritt der DUP in die von dem Karfreitagsabkommen von 1998 vorgegebene Allparteienregierung – ist nach wie vor nicht gegeben. Der Grund hierfür ist die offene Frage, wie das Backstop-Protokoll im Austrittsabkommen zwischen Großbritannien und der EU im Sinne der Unionisten gelöst werden soll.
Das Protokoll regelt die Einfuhr von Gütern von Nordirland in die Irische Republik. Um hier eine harte Grenze mit Kontrollpunkten zu vermeiden und Nordirland im EU-Binnenmarkt zu halten, ist die Einfuhrkontrolle in Ost-West-Richtung in die Irische See verlegt worden. Doch dies bedeutet einen hohen administrativen Aufwand, so daß als eine Folge dieser Seegrenze der Güterverkehr von der Republik nach Nordirland dramatisch zugenommen hat, um diesen Beschränkungen zu entgehen. Für die Unionisten ist diese Seegrenze eine für sie unerträgliche Unterminierung des Status Nordirlands innerhalb des Vereinigten Königreichs.
Die SF-Nationalisten wiederum weisen darauf hin, daß beim Brexit-Referendum der Wählerwille in Nordirland sich mit deutlicher Mehrheit für einen Verbleib in der EU entschieden hat. Die alten Befürchtungen werden wieder wach, wonach Irland letztendlich in entscheidenden Dingen von England aus fremdbestimmt wird.
Doch die Angst vor der Wiedereinführung der harten Grenze weist jenseits aller Formalien auch auf ein tiefsitzendes psychologisches Element hin. Über Jahrzehnte war die innerirische Grenze auch ein Identitätsmarker, der Briten und Iren voneinander schied. Auf britischer Seite war sie zudem stark militärisch ausgebaut. „Der Brexit war eher eine Trauma-Erfahrung als eine Debatte über Handelsregeln und Zölle“, so der Politikwissenschaftler Feargal Cochrane: „Wie auch immer, es weist wenig darauf hin, daß die britische Regierung um diesen Aspekt wußte beziehungsweise sich darum scherte, wie sich ihre Verhandlungen auf das Leben der Menschen auswirken würden.“
Unterdessen hat in der vergangenen Woche die britische Regierung ihr Gesetzesvorhaben zur Änderung des Protokolls vorgestellt. Das Gesetz, das nicht der Zustimmung der nordirischen Regionalversammlung bedarf, soll den Güterverkehr nach Nordirland in zwei Linien differenzieren. Eine grüne, über die mit geringem Aufwand ausschließlich für den britischen Binnenmarkt bestimmte Waren, und eine rote, über die weitere Waren in die Republik Irland laufen sollen. Ebenso soll durch das Gesetz das nordirische Gewerbe von den gleichen Steuererleichterungen profitieren können wie der Rest in Großbritannien, was durch die EU-Regularien derzeit ausgeschlossen ist. Erwartungsgemäß haben Dublin und Brüssel gegen das Vorhaben vehement protestiert.
William in Armagh wiederum setzt wenig Vertrauen in die Verhandlungsführung des innerparteilich geschwächten Premiers Johnson, den er für schlimmer hält als seine inzwischen legendäre Amtsvorgängerin Margaret Thatcher. Bei ihr hätte man wenigstens gewußt, woran man war. Doch Johnson wisse wahrscheinlich selber nicht, was er wolle.
So vieles die Unionisten und die Nationalisten trennt, so ist ihnen eines gemeinsam: die historische Erfahrung der begrenzten Vertrauenswürdigkeit britischer Regierungen. „Wenn du einem britischen Politiker die Hand gibst, zähl hinterher deine Finger“, so sagt man in Nordirland.
Foto: Protestplakat gegen die Absicht Londons, das Grenzprotokoll zu ändern nahe Omagh: „Halt dich zurück, Boris“
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