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Berichte und Bilder zum Nordirlandkonflikt

Irland: Kein Schutz für die „Ehe light“

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG – www.jungefreiheit.de   Ausgabe 12-24 15.03.24

Irland: Kein Schutz für die „Ehe light“

DUBLIN. Zwei am vergangenen Freitag in Irland abgehaltene Referenden über Verfassungsänderungen zum Status von Ehe und Familie sind mit übergroßer Mehrheit von den Wählern abgewiesen worden. Das erste Referendum über die Ehe hätte auch „andere dauerhafte Beziehungen“ auf den gleichen Status der traditionellen Ehe als „natürliche Primär- und Grundeinheit der Gesellschaft“ gehoben. Damit einhergehend wäre die Eheschließung als vom Staat zu schützende Grundvoraussetzung der Familie entfallen. Das zweite Referendum betraf die Rolle der Frau in der Familie. In der seit 1937 geltenden Verfassung anerkennt der Staat, daß „die Frau dem Staat durch ihr Leben zu Hause eine Unterstützung leistet, ohne die das Gemeinwohl nicht erreicht werden kann.“ Daher solle sichergestellt werden, daß Frauen nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit ihre Pflichten im Haushalt vernachlässigten. Dieser Teil der Verfassung wäre bei einer erfolgreichen Annahme durch einen allgemein gehaltenen Text über „Mitglieder einer Familie aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Bindungen“ ersetzt worden, ohne daß dabei die Funktion im familiären Haushalt an erster Stelle gesetzt wäre. Beide von allen politischen Parteien unterstützten Referenden sind mit jeweils 67,7 beziehungsweise 73,9 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt worden. (dko)

Los von London?

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/24 / 23. Februar 2024

Michelle O’Neill. Erstmals führt eine irische Nationalistin die Regionalregierung der britischen Provinz Nordirland.
Los von London?

Daniel Körtel

Eine historische Zäsur ist die Ernennung Michelle O’Neills Anfang Februar zur neuen Regionalpräsidentin („First Minister“) Nordirlands. Denn während die Briten 1922 den Südteil der irischen Insel in die Unabhängigkeit entließen, konstituierte sich im Norden „ein protestantischer Staat für ein protestantisches Volk“, so dessen erster Premierminister James Craig, der fest mit dem britischen Mutterland verbunden bleiben sollte. Doch gut 100 Jahre später und rund 25 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, das den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten beendete, regiert mit O’Neill nun nicht nur eine Katholikin Craigs „protestantischen Staat“, sondern auch eine Politikerin der irisch-nationalistischen Sinn Féin („Wir selbst“), einst politischer Arm des britischen Erzfeinds, der Untergrundbewegung IRA.

Die Biographie der im südirischen County Cork geborenen 47jährigen bildet das ideale Bindeglied Sinn Féins zwischen dem bewaffneten Kampf der Vergangenheit und dem politischen Kampf der Zukunft. Ihre Großmutter war eine Bürgerrechtsaktivistin, ihr Vater ein IRA-Kämpfer mit hoher Reputation. Ein Cousin starb im Gefecht mit der britischen Spezialeinheit SAS, ein anderer wurde im Schußwechsel mit der Polizei schwer verletzt. Diese Herkunft aus der „Kriegszone“, ohne jedoch selbst darin verstrickt zu sein, verleiht O’Neill hohe Glaubwürdigkeit bei den pro-irischen Katholiken.

Nie war Sinn Féin in einer besseren Position, den Traum einer Wiedervereinigung der Insel wahr werden zu lassen.

Trotz Teenagerschwangerschaft mit 15 konnte sie dank familiärer Hilfe die Schule beenden und eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin absolvieren. Von Beginn an arbeitete sie jedoch in der Politik und gewann 2007 ihren ersten Sitz in der Northern Irland Assembly, dem Regionalparlament in Belfast, wurde Ministerin und schließlich Vorsitzende der Sinn Féin in Nordirland. Ein Posten, der in solchen Kader-Parteien nicht im freien Wettbewerb demokratischer Wahlen bestimmt, sondern in Hinterzimmern ausgekungelt wird. Und so war es der todkranke Martin McGuinness, unbestrittener Anführer der nordirischen Nationalisten, der gegen alle Erwartungen O’Neill 2017 zur Nachfolgerin bestimmte.

Die Regionalwahl 2022 brachte die bislang dominierende pro-britische DUP (Democratic Unionist Party) dem Kollaps nahe und machte Sinn Féin zur stärksten Kraft. Gemäß dem Karfreitagsabkommen stand damit O’Neill das Amt des Regionalpräsidenten in der Allparteienregierung zu. Doch die DUP blockierte sie, so daß London mittels Beamter das Ruder übernehmen mußte. Erst als die britische Regierung 2023 die Brexit-Regularien zur Zollkontrolle zwischen Nordirland und Großbritannien entschärfte, akzeptierten die Unionisten O’Neill.

Brisant ist das nicht nur, weil damit Sinn Féin an der Spitze Nordirlands steht, sondern weil sie als stärkste Kraft in der benachbarten Republik Irland nach der nächsten Parlamentswahl Anfang 2025 womöglich auch dort die Regierung führt. Nie war die Partei der irischen Nationalisten in einer besseren Position, ihren Traum einer Wiedervereinigung der Insel unter ihrer Führung wahr werden zu lassen. Doch für nicht wenige im Norden und Süden ist das angesichts von Sinn Féins Verhältnis zur gewalttätigen Vergangenheit und des nach wie vor aktiven Einflusses des IRA-Armeerats ein Albtraum. Michelle O’Neill muß zeigen, ob sie diese Ängste nehmen kann.

Turbo-Druck für Abschiebungen

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/24 / 09. Februar 2024

Turbo-Druck für Abschiebungen
Irland: Die Regierung in Dublin verschärft den Kurs gegenüber abgelehnten Asylbewerbern

Daniel Körtel

Die anhaltenden Proteste aus der irischen Bevölkerung haben die bürgerlich-konservative Koalitionsregierung unter Einschluß der Grünen offenbar zu einer Abkehr von der bisherigen liberalen Migrationspolitik geführt, vor allem auch wegen der stetig knapperen Ressourcen, um die Neuankömmlinge zu versorgen, sowie im Hinblick auf die kommenden Wahlen in diesem Jahr.

So kündigte vergangene Woch die irische Justizministerin Helen McEntee, die der liberal-konservativen Partei Fine Gael angehört, eine Reihe von Maßnahmen an, die die Zahl der Abschiebungen deutlich erhöhen sollen. Zum einen wird Irland Ende dieses Jahres erstmals wieder seit 2018 Charterflüge für Abschiebungen in die Herkunftsländer buchen. Dabei sollen auch über Zwischenlandungen abgelehnte Asylbewerber aus anderen EU-Staaten mitgenommen werden. Damit wäre das durch die Covid-Pandemie erlassene Moratorium von Abschiebeflügen beendet. Vornehmlich werden Algerien, Georgien und Nigeria an der Spitze der anzufliegenden Zielländer stehen. Algerien wurde neben Botswana in die Liste sicherer Herkunftsländer aufgenommen. Die bestehende Liste der sicheren Länder umfaßt Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Südafrika.

Die Migranten-Charterflüge sollen noch in diesem Jahr beginnen

Aus Botswana kamen im vergangenen Jahr 343 Asylbewerber, während 1.462 aus Algerien stammten. Über die Anträge von Bewerbern aus einem dieser sicheren Herkunftsländer soll innerhalb von 90 Tagen entschieden werden „Wir haben im vergangenen Jahr eine Zunahme von Menschen aus diesen Ländern gesehen, deren Mehrheit aus wirtschaftlichen Gründen kommt“, zitiert die Irish Times die Ministerin. Geplant war, auch Nigeria und Pakistan in diese Liste aufzunehmen, doch konnte Dublin hierfür nicht alle Kriterien erfüllen.

Von weiteren Maßnahmen, die bereits am Folgetag ihrer Ankündigung in Kraft traten, sind auch solche Migranten betroffen, die bereits in einem anderen Land einen Flüchtlingsstatus genießen. Im vergangenen Jahr wurden lediglich 80 von 750 Abschiebeverfügungen vollzogen, wobei allerdings nach Regierungsangaben der größte Teil der verbliebenen Auszuweisenden ohne Information an die Behörden von sich aus das Land verlassen hätten. Die irische Regierung hofft, die Zahl der Abschiebungen auf bis zu 5.000 zu steigern. Allerdings müßten erst noch Angebote von Fluglinien eingeholt werden. McEntee bestätigte gegenüber dem Sunday Independent auch, daß bereits Pläne für Charterflüge zur Abschiebung im Gange seien und sie hoffe, daß diese noch in diesem Jahr beginnen und etwa 20 bis 30 Personen pro Flugzeug befördern würden. Das Büro für internationalen Schutz in ihrer Abteilung werde voraussichtlich mehr als 80 neue Mitarbeiter einstellen und bis Ende des Jahres 1.400 Fälle pro Monat bearbeiten – mehr als das Dreifache des bisherigen Umfangs. „Es wird mehr Abschiebungen geben, aber die Menschen werden auch schneller ihre Anträge erhalten“, betonte McEntee.

Wie sehr den Iren die Migrationskrise unter den Nägeln brennt, belegen aktuelle Umfragewerte von Ipsos B&A. Im Oktober stand das Thema Migration noch bei lediglich sieben Prozent. Von dort schob es sich in den vergangenen Monaten, an der Krise auf dem Wohnungsmarkt vorbei, an die Spitze. Dort steht es derzeit bei 24 Prozent, gefolgt von der Wohnungsnot mit 19 Prozent sowie der Sozial- und Steuerpolitik mit je vier Prozent.

„Unsere Kinder fürchten sich“

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/24 / 26. Januar 2024

„Unsere Kinder fürchten sich“
Irland: Der Protest gegen den anhaltenden Migrationsstrom droht zu eskalieren
Daniel Körtel

Auch mehrere Wochen nach der schweren Messerattacke eines Migranten auf Schulkinder in Dublin, die gewaltsame Proteste gegen die liberale Migrationspolitik der irischen Regierung zur Folge hatte, hält die Zuwanderung die Republik Irland auf einem hohen Streßlevel. So brannte im Dezember durch Brandstiftung in Rosscahill in der westirischen Grafschaft Galway kurz vor dem Einzug von bis zu 70 Asylbewerbern ein leerstehendes Hotel nieder. Nun entluden sich die Spannungen in der mittelirischen Kleinstadt Roscrea.

Als vorletzte Woche bekannt wurde, daß die Eigentümer des Racket Hall Hotel, des einzigen Hotels vor Ort, einen Vertrag über die Dauer von zwölf Monaten für die Nutzung der Vier-Sterne-Einrichtung mit 40 Zimmern zur Unterbringung von Asylbewerbern unterschrieben hatten, kam es zu massiven Protesten. Geplant war die Belegung von 160 Betten mit Migranten, die den Status des Internationalen Schutzes einforderten.

Sorge vor anhaltender Überlastung der medinizinischen Dienste

Innerhalb weniger Stunden nach Bekanntgabe des Vorhabens versammelten sich mehrere hundert Demonstranten zur Blockade der Einrichtung. Es kam zu einer Konfrontation mit einer Spezialeinheit der Polizei mit nachfolgendem Handgemenge. Einer der Protestierenden wurde festgenommen. Durch die mehrtägige Blockade konnten bislang nur durch einen Polizei-Korridor hineineskortierte 17 Migranten einziehen. Die Demonstranten kritisierten vor allem den Verlust des einzigen Hotels vor Ort und daß Roscrea mit zwei Aufnahmezentren bereits Hunderte Flüchtlinge aus der Ukraine und übrigen Staaten aufgenommen habe, mit einhergehender Überlastung der medizinischen Dienste.

Die Regierung versucht unterdessen den Zorn in Roscrea zu besänftigen. Ein anderes, seit 2013 in Roscrea stillgelegtes Hotel soll angekauft und in ein „Gemeinde-Hotel“ umgewandelt werden. Dieses würde von einheimischen Freiwilligen selbst betrieben werden. Damit hätte Roscrea wieder einen Ort für Feierlichkeiten. Die Einnahmen kämen der Gemeinde zugute. Doch mit dem Standard eines kommerziellen Unternehmens wäre diese Einrichtung kaum vergleichbar. Ein Modell wie dieses ist in Irland bislang nur an einem Ort in Betrieb.

In Roscrea dürfte diese Maßnahme indes nicht jeden vollends überzeugen: „Wir sind darüber im dunklen, aber es wird das Problem noch nicht klären. Wir haben Kinder zu Hause, die sich fürchten auf die Straße zu gehen oder nachts mit ihren Freunden auszugehen, wegen Einschüchterung durch diese in Gruppen herumlaufenden Leute. Darüber wird überhaupt nicht gesprochen“, zitiert die Irish Times einen Anwohner.

Der Druck in den irischen Gemeinden durch die ungebrochene Migrationswelle wächst und damit der Unwille, weitere Ankömmlinge unterzubringen. Vorige Woche verabschiedete die Regionalversammlung der westirischen Grafschaft Mayo die Aufforderung an die lokalen Behörden, ab sofort die Zusammenarbeit mit dem Integrationsministerium über die Unterbringung weiterer Asylsuchende und Flüchtlinge einzustellen. Ein dortiger Kommunalpolitiker kritisierte der Irish Times zufolge die Regierungsstrategie, die Unterbringung von Migranten dem Privatsektor zu überlassen, der so die Aufnahmezentren zu „Profitcentern“ mache, „geführt von gesichtslosen Opportunisten“.

Die Regierung verspricht zusätzliche Hilfen für die Bezirke

Die Antwort der Regierung auf die Folgen der Migrationskrise für die Kommunen sollen zusätzliche Hilfen für die zehn am meisten von Asylunterbringungen betroffenen Bezirke sein. Es wirkt wie der hilflose Versuch, die Zustimmung und Ruhe der betroffenen Bevölkerung zu erkaufen und der Regierung Zeit zu verschaffen, noch dazu in einem Jahr, in welchem Europa-, Kommunal- sowie Parlamentswahlen stattfinden. Denn das eigentliche Problem, das anonyme Regierungsquellen benennen, ist ein ganz anderes: die nicht vorhersagbare Zahl jener Migranten, die noch weiter in das Land kommen werden.


Weitere Informationen:

https://www.irishtimes.com/politics/2024/01/24/ireland-should-support-return-home-for-ukrainians-says-ogorman/

https://www.irishtimes.com/politics/oireachtas/2024/01/24/miriam-lord-glacial-varadkar-response-to-harkins-male-migrants-remarks/

Verborgen hinter Mauern

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/23 / 15. Dezember 2023

Verborgen hinter Mauern
Irland: Die einst machtvolle Rolle der Katholischen Kirche erfährt eine schmerzvolle Aufarbeitung
Daniel Körtel

Vor allem Nordirlands Überlebende der vom katholischen Nonnenorden betriebenen Mutter- und Kind-Heime (Mother and Child Homes) geben keine Ruhe. „Wir fühlen uns von allen im Stich gelassen, von der britischen Regierung und dem Exekutivbüro bis hin zu den Politikern und Beamten“, erklärte Adele Johnstone, Sprecherin von „Birthmothers and their Children for Justice NI“, im Oktober gegenüber der BBC. „Birth Mother‘s and their Children for Justice“ wurde im August 2015 gegründet. Es ist eine Gruppe von Müttern und Kindern, die sich für Gerechtigkeit für die Betroffenen der Mutter- und Kind-Einrichtungen/Magdalenen-Wäschereien/Arbeitshäuser im Norden Irlands einsetzt.

„Im Oktober 2021 wurden so viele Versprechungen gemacht und wir waren voller Hoffnung, daß sich die Dinge endlich ändern würden. Jetzt, zwei Jahre später, haben wir noch nicht einmal das Mandat für eine Untersuchung und keinen Cent an Entschädigung“, fuhr Johnstone fort. Barbara McCann, die 1962 adoptiert wurde, schlug in die gleiche Kerbe: „Beratungs- und andere Unterstützungsdienste sind großartig und natürlich zu begrüßen, aber wir brauchen mehr als Tee und Mitleid. Nach all den Jahren der Kampagnenarbeit brauchen wir die versprochene gesetzliche Untersuchung. Die Forschung wurde durchgeführt, wir haben die Berichte gelesen, die Überlebenden müssen jetzt handeln, bevor es zu spät ist – viele von ihnen sind gebrechlich und alt.“

Den Anstoß für diese Debatte hatten die 2013 publik gewordenen Nachforschungen der Lokalhistorikerin Catherine Corless über das von den Schwestern der Bon Secours im westirischen Tuam betriebene Mother and Child Home geliefert. Die folgenden Untersuchungen deckten auf, daß in den Jahren 1926 bis 1961, in denen der Orden das Heim betrieb, fast 800 Kinder verstarben, entsorgt wie Müll in einer Klärgrube auf dem Heimgelände.

In dem Irland dieser Vergangenheit hatte kaum jemand ein schwereres Stigma zu ertragen als unverheiratete Frauen, die schwanger wurden. Die noch aus dem viktorianischen Zeitalter überkommenen Moralvorstellungen, mit denen die britische Oberherrschaft auch in Irland die Zahl illegitimen Nachwuchses zu reduzieren versuchte, waren nach 1922 mit der Unabhängigkeit Irlands immer noch tief in der Gesellschaft verankert.

Nach der Geburt wurden die Kinder von ihren Mütter getrennt

Für eine ledige Schwangere gab es keinen anderen Platz als in den Heimen – oftmals auf Initiative des Pfarrers oder der Polizei –, denn in den Familien galten die „gefallenen Frauen“ als Schande, während die Väter wiederum feige die Flucht in die Emigration suchten oder die Vaterschaft schlicht leugneten. Nicht wenige dieser aus der Mittel- und Unterschicht stammenden Frauen waren die Opfer von Vergewaltigung und Inzest. In den wie Gefängnissen betriebenen Heimen fanden die Frauen allerdings keine liebevolle Fürsorge, sondern grobe Mißachtung und harte Strafen durch die Nonnen. Nach der Geburt wurden die Kinder oftmals gegen ihren Willen von ihren Müttern getrennt und nach einiger Zeit legal wie illegal zur Adoption freigegeben, ausschließlich in katholische Familien in Irland, Großbritannien und den USA.

In Tuam, das als eine der schlimmsten Einrichtungen der neun in Irland betriebenen Heime gilt, verblieben die Mütter von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren, bevor sie in niedere Arbeitsstellungen außerhalb vermittelt wurden. Nur in den wenigsten Fällen konnten sie ihre Kinder mitnehmen. In der Regel kamen diese mit sieben oder acht Jahren in gesonderte Einrichtungen.

Auffallend ist die hohe Sterblichkeitsrate unter den in den Heimen lebenden Kindern. In Tuam konnte sie aufgrund lückenhafter Statistiken nur geschätzt werden, doch liegt diese Zahl mit 35 Prozent weit über der in vergleichbaren Einrichtungen wie sie im benachbarten Wales und England bestanden. Als ursächlich wird hierfür die Vernachlässigung durch die Nonnen und das Fehlen ärztlicher Hilfe angenommen.

Aber auch nach den Mother and Baby Homes konnte das System die Frauen im Griff behalten. Ihrem Aufenthalt dort konnte sich der in den als Magdalene Laundries bezeichneten Einrichtungen anschließen, etwa zehn von Nonnenorden betriebenen Wäschereien, in denen die „gefallenen Frauen“ auf unbestimmte Zeit Zwangsarbeit leisten mußten. Die letzte dieser Wäschereien, die Our Lady of Charity in Dublin, wurde erst 1996 geschlossen, drei Jahre nach der Entdeckung von 155 nicht gekennzeichneten Gräbern auf dem Gelände, Überreste von dort einsitzenden Frauen und Mädchen.

Eine Änderung trat mit dem 1953 in Kraft getretenen Adoption Act ein, der erstmals Adoptionen legalisierte und den die Heime betreibenden Nonnenorden ein Goldenes Zeitalter bescherte. Es kam eine lukrative Adoptionsindustrie in Gang. Was vorher im verborgenen auf einem grauen Markt betrieben wurde, erhielt nun einen legalen Anstrich.

Anfang der 1970er Jahre fand dieses System jedoch ein rasches Ende. Ausschlaggebend waren zum einen die deutlich zurückgegangenen Berufungen für die Klöster im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils und der einsetzende gesellschaftliche Wandel, der unverheirateten Schwangeren zunehmend den Makel nahm.

Doch das Ende der Mother and Baby Homes und der Adoptionsindustrie bedeutet nicht das Ende des Leids für die Betroffenen. Noch immer sind viele von denen, die als Kinder ihren alleinstehenden Müttern entrissen wurden, auf der Suche nach ihren Wurzeln. Immerhin als einen wichtigen Schritt in der Aufarbeitung hat Papst Franziskus auf seiner Irland-Visite 2018 öffentlich erklärt, daß die Katholische Kirche die Schwangerschaft einer alleinstehenden Frau nicht mehr als Todsünde betrachtet.

Doch damit ist die Aufarbeitung des Machtmißbrauchs der Kirche und des wider besseres Wissen um die Mißstände in den Heimen sie deckenden Staates keineswegs abgeschlossen. Viele Akten sind noch unter Verschluß, und eine geplante Gedenkstätte läßt auf sich warten. Wissenschaftler beklagen die Blockadehaltung der Behörden beim Zugang zu staatlichen Archiven. Dabei richtet sich der Fingerzeig nicht allein auf Kirche und Staat, sondern auch auf eine Gesellschaft, die das lästige Problem der ledigen Mütter bequem hinter hohen Mauern verschwinden lassen wollte. Was sich jedoch dahinter an Dramen abspielte, war durchaus nicht wenigen bekannt.

Eine der kompliziertesten Exhumierungen der Welt

Die Auflösung kirchlicher Machtverhältnisse hat indessen auch die Justiz in späte Bewegung versetzt. Hierfür steht der Fall eines 87jährigen, früheren Lehrers der Laienorganisation der Christian Brothers, den im Oktober ein Gericht in Dublin wegen seiner teils bizarren sexuellen Übergriffe auf männliche Schüler in den 1970er und 1980er Jahren zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilte. Der sich schuldig bekennende Täter sitzt bereits wegen ähnlicher Fälle im Gefängnis.

Unterdessen hat der mit der Identifizierung der Babyleichen von Tuam beauftragte Forensiker Daniel Mac Sweeney einen ersten Zwischenbericht abgegeben. Das Alter der Überreste und die Bedingungen, unter denen sie lagen, bringe das Verfahren an die „Grenzen der Wissenschaft“. Viele der Überreste könnten sehr wahrscheinlich nicht identifiziert werden.

Roderic O’Gorman, Minister für Kinder, Gleichstellung, Behinderte, Integration und Jugend bezeichnete die Exhumierung als „eine der kompliziertesten forensischen Ausgrabungen der Welt“.

Denn die Leichen von Hunderten von Säuglingen, die im Heim an verschiedenen Krankheiten gestorben waren, wurden laut BBC in Tücher eingewickelt und in die Kammern eines stillgelegten Abwassersystems auf der Rückseite des ehemaligen Arbeitshauses gelegt, das längst abgerissen und mit einer Wohnsiedlung und einem Spielplatz bebaut worden sei.

Irland setzt auf Abschreckung

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG – www.jungefreiheit.de   Ausgabe 51-23 15.12.23

Irland setzt auf Abschreckung

DUBLIN. Bislang zählte Irland zu den Ländern, die Flüchtlingen aus der Ukraine weit entgegengekommen sind. Doch mit der Großzügigkeit wird es voraussichtlich bald ein Ende haben. Wie die Irish Times berichtet, wurde dem Regierungskabinett ein Vorschlag aus dem Integrationsministerium vorgelegt, dem zufolge die Sozialleistungen für künftige Ankömmlinge aus der Ukraine deutlich abgesenkt werden sollen und eine Unterkunft nur noch für die ersten 90 Tage garantiert wird. Dabei wird die dem Vorschlag zugrundeliegende Absicht der Abschreckung weiterer Flüchtlinge offen zugegeben. Offiziellen Quellen zufolge komme ein Drittel der bereits in Irland lebenden 100.000 Ukraine-Flüchtlinge aus einem sicheren Land und werde von den relativ großzügigen Sozialleistungen angezogen. Die Annahme des Vorschlags durch das Parlament für Anfang nächsten Jahres gilt als gesichert. Erst vergangene Woche hatte Irland die Unterbringung männlicher Asylbewerber gestoppt und diese stattdessen mit 113,80 Euro wöchentlich und mit Schlafsack und Zelt ausgestattet. (dk)

Irlands harter Haken

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG – www.jungefreiheit.de   Ausgabe 50-23 08.12.23

Conor McGregor schockt mit der Erklärung: „Wir sind im Krieg“ – die Polizei ermittelt. Will der Superstar in die Politik?
Irlands harter Haken

Daniel Körtel

Der tödliche Messerangriff eines Einwanderers auf eine Gruppe Schulkinder und ihre Betreuerin löste heftige Krawalle aus, die die Hauptstadt Dublin vergangene Woche erschütterten – und den wohl populärsten Sportler Irlands in den Mittelpunkt rückten: Conor McGregor, einer der erfolgreichsten Kämpfer in der wohl extremsten aller Kampfsportarten Mixed Martial Arts (MMA), verschaffte sich auf X (ehemals Twitter) Luft. Seine Kritik an der liberalen Migrationspolitik der Regierung mündete in die Ansage: „Ireland, we are at war“ – Irland, wir sind im Krieg! Nachdem er zuvor schon die Bevölkerung dazu aufgerufen hatte, sich „irischen Besitz“ nicht widerstandslos nehmen zu lassen – wohl in Anspielung auf die Praxis, Hotels zu räumen, um Asylbewerber unterzubringen. Eine spätere Distanzierung von den Ausschreitungen konnte polizeiliche Ermittlungen gegen ihn wegen „Aufstachelung zum Haß“ nicht mehr abwenden.

Doch zu kämpfen ist McGregor, der sich aus einfachsten Verhältnissen regelrecht nach oben geboxt hat, gewohnt. 1988 in einem Vorort Dublins geboren, hatte er das Dasein als mittelloser Handwerker satt und meldete sich arbeitslos, um als MMA-Kämpfer den Weg zum großen Geld zu beschreiten – obwohl er sich anfangs nicht einmal die Ausrüstung leisten konnte. Das harte Training zahlte sich aus. Nach nationalen Erfolgen gelang ihm 2013 ein Vertrag mit der amerikanischen Ultimate Fighting Championship und damit der Durchbruch. In den Folgejahren errang McGregor mehr als zwanzig Siege sowie Meisterschaftstitel.

Dabei weiß er sich gut zu präsentieren, seinen Hang zu extravaganten Anzügen vermarktet er mittels eigener Modekollektion und zog zudem eine lukrative Whiskey-Marke hoch. Mit seiner geschäftlichen Cleverness stellt er das MMA-Klischee vom hirnlosen Schläger deutlich in Frage.

Seine Ansage, sollte die Regierung nicht für Sicherheit sorgen, tue er es, wurde als Kriegserklärung verstanden.

Doch so populär McGregor in seiner Heimat ist, das liberale Establishment wollte nie richtig warm mit ihm werden. Das hochaggressive, mit traditionellen Idealen von Männlichkeit verbundene MMA wirkt wohl als kulturelle und mentale Hürde, die kaum zu überbrücken ist. Die Ansage des Champions an die Regierung, wenn sie nicht die Sicherheit im Land gewährleiste, werde er es tun, wurde als Kriegserklärung verstanden. Denn die Angst, ein „Populist“ könnte dem europäischen Trend entsprechend die Repräsentationslücke rechts im politischen Spektrum besetzen, geht in Irland schon lange um.

Und so schritt das mediale Establishment zur Gegenwehr: McGregors Leistungen werden relativiert, eine unklare Haltung zum Doping insinuiert und juristisch abgewehrte Vorwürfe sexueller Belästigung wieder hervorgekramt. Ebenso geriet sein Investitionsprojekt, ein Mietshaus mit 113 Apartments im unter chronischer Wohnungsnot darbenden Dublin ins Visier. Und als wolle man Sozialneid schüren, wurde darauf verwiesen, sein Vermögen übertreffe selbst das der Fußballer Lionel Messi und Cristiano Ronaldo.

Kommt nach dem Erfolg in Sport und Geschäft der Einstieg in die Politik? Sollte McGregor seiner Andeutung Taten folgen lassen, wird es spannend sein zu sehen, wie sich der irische Herkules außerhalb des vertrauten „Oktagon“ behaupten kann – wo nach ganz anderen Regeln gespielt wird.

Generation ausgesperrt

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/23 / 28. April 2023

Generation ausgesperrt
Irland: In den großen Städten verarmen immer mehr Menschen. Die junge freiheit hat einen Helfer getroffen

Daniel Körtel

Es herrscht wieder geschäftiges Treiben in der Bow Street. Die enge Straße nahe der Innenstadt der irischen Hauptstadt Dublin, nicht weit vom Strom der Liffey und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Whiskey-Museum der einstigen Brennerei Jameson, ist zu einem Epizentrum der sich verschärfenden sozialen Krise geworden, unter der die Republik Irland leidet. Hier ist das Capuchin Day Centre, wo Bedürftige an den zwei Ausgabestellen zur Straße hin in einer blauen, in der Öffnung verknoteten Tüte ihr tägliches Lebensmittelpaket in Empfang nehmen. Darin enthalten sind Brot, Tee, Zucker, gekochter Schinken, gekochtes Huhn, Butter, Milch, Bohnen und Käse. Es sind Dutzende, die hier innerhalb einer Stunde an diesem Vormittag vorbeikommen und deren Zusammensetzung eine große Bandbreite aufweist.

Im ersten Stock des Gebäudes sitzt Alan Bailey, der Leiter der Einrichtung, in seinem Büro. Der 72jährige frühere Polizist ist seit 2011 auf diesem Posten. Er erzählt über das 1969 gegründete Capuchin Day Centre. Anfangs, als die Umgebung noch von Slums durchsetzt war, bestand die Klientel ausschließlich aus „Männern mit Alkoholproblemen, 20 Leute jeden Tag“. Mit der Verbreitung von Heroin kamen in den 1970er und 80er Jahren obdachlose Frauen hinzu.

Es gibt jedoch einen neuen Trend, von dem Bailey berichtet, mit dem er und seine rund 100 freiwilligen Helfer konfrontiert werden: Es kommen inzwischen verstärkt Familien, die um Hilfe bitten. Darunter sogar solche mit Wohnung und Haus. Die „Kundschaft“ werde globaler. Die Zahlen sprechen für sich: 1.400 Lebensmittelpakete werden täglich ausgegeben, zum Frühstück kommen 300 Personen und zum Mittagessen 700 in den kleinen Speisesaal, wo in einer Ecke sich die fertig verpackten blauen Tüten zu Haufen stapeln. Das Angebot wurde inzwischen erweitert. Das Center bietet auch kostenlose medizinische Hilfe an, ebenso einen Friseur und Duschmöglichkeiten.

Bailey bringt die Philosophie des Centers auf den Punkt: „Niemand fragt nach Namen, wir beurteilen nicht.“ – Anonymität ist garantiert. Selbst auf die Ernährungsgewohnheiten von Muslimen wird Rücksicht genommen. Damit entfällt auch jede Registrierung einer Zuwendung. Die Ausnahmen bilden lediglich die Ärzte für ihre Untersuchungen. Das Center enthält sich auch jeder politischen Stellungnahme. Die Kosten von rund 4 Millionen Euro pro Jahr werden aus Spenden finanziert, zu denen die irische Regierung 400.000 Euro beisteuert. „Wir hatten nicht erwartet, derart beschäftigt zu sein“, so Bailey über die jüngste Entwicklung, aber der Einsatz praktischer Nächstenliebe sei lohnend. Dennoch: „Wir hoffen, es wird enden.“

Die Mieten in Dublin haben sich seit 2010 fast verdoppelt

Das Capuchin Day Centre ist ein Laienapostolat – ein so bezeichneter „Sendungsauftrag der Kirche an die Gläubigen“ – des Kapuzinerordens, der wiederum aus dem von dem heiligen Franziskus (1181/82–1226) gegründeten Bettelorden der Franziskaner hervorgegangen ist und dessen bekanntestes Merkmal die nach hinten spitz zulaufenden Kapuzen ihrer Mönchskutten sind. Die Räumlichkeiten in Dublin sind Eigentum des Ordens, Vorsitz und Vorstand werden größtenteils von den Kapuzinern gestellt, doch werden Mönche wie tätige Laien vom selben Ethos getragen. Wie eine Auszeichnung war der Besuch von Papst Franziskus, der 2018 bei seiner Irland-Reise auch dem Center seine Aufwartung machte und dort im Speisesaal Platz nahm.

Es erscheint paradox: 2013 hat Irland die 2008 ausgebrochene Banken- und Finanzkrise mit ihren drastischen Verheerungen auf die Gesamtwirtschaft des Landes hinter sich gelassen. Mit seinen jüngsten Wachstumsraten knüpft das Land zumindest statistisch wieder an die Erfolgsgeschichte des „keltischen Tigers“ an, womit es in den 1990er Jahren seinen Status als Armenhaus Westeuropas hinter sich gelassen hat. Und doch ist vor allem in den Ballungszentren die Not sichtbar, die sich weniger in fehlenden Arbeitsplätzen äußert, sondern in einem grassierenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum.

Der Hauskauf ist für jüngere Menschen unerschwinglich geworden. Zu steigenden Mieten kommt die Inflation, die es kaum erlaubt, Erspartes zur Seite zu legen. Betrug 2010 die durchschnittliche Miete innerhalb Dublins 979 Euro (außerhalb: 626 Euro), so stieg sie bis 2021 auf 1.916 Euro (1.114 Euro). Die Obdachlosigkeit nimmt zu, manch Betroffene übernachten bei Freunden („Couchsurfing“), im eigenen Auto oder bleiben weiterhin im Elternhaus. Generation „Locked-out – Ausgesperrt“, von einem Leben in den eigenen vier Wänden mit dazugehöriger eigener Familie. Die Irish Times verglich die Jagd nach Wohnungen mit den „Hunger Games – Hungerspielen“, der Filmreihe über eine dystopische Zukunft, in der verschiedene Gruppen sich ein tödliches Spiel mit nur einem Gewinner liefern.

Mehrere Ursachen liegen dieser Krise zugrunde. Zum einen zog sich bereits in den 1990er Jahren der irische Staat unter dem Einfluß des Neoliberalismus aus dem sozialen Wohnungsbau zurück. Private Marktteilnehmer sollten allein regeln, wo der Staat seit der Unabhängigkeit 1922 erfolgreich involviert war. In der politischen Elite vollzog sich ein Mentalitätswechsel, indem man den Wohnraum mehr als Ware, denn als soziales Bedürfnis ansah. Doch als krisenverschärfend erwies sich die Einladung an globale institutionelle Anleger durch die staatliche Behörde NAMA (National Asset Management Agency), die als „Bad Bank“ die toxischen Kredite aus der Finanzkrise verwaltete, auf dem irischen Immobilienmarkt tätig zu werden.

Die sozialen Konflikte drohen zunehmend zu eskalieren

Gleichzeitig sorgt die zunehmende Migration, nicht allein durch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, für einen anhaltenden Nachfrageschub am Wohnungsmarkt. Die aggressiven Proteste und Übergriffe von Anwohnern allein in Dublin und Cork gegenüber Migranten zeigen nur allzu deutlich, daß die „Hungerspiele“ auf ein heißeres Szenario zuzulaufen drohen.

Im März endete das im Oktober 2022 erlassene Räumungsverbot, das Mietern einen gewissen Schutz vor Räumung bot, solange sie nicht wegen Mietzahlungsausfällen oder verhaltensbedingt negativ auffielen. In Irland sind die Schutzrechte von Mietern ohnehin weit unter dem Standard im übrigen Europa. Weit verbreitet sind die Befürchtungen über die Auswirkungen auf das Leben ganz gewöhnlicher Menschen, die kaum Alternativen auf einem überhitzten Wohnungsmarkt haben. Es ist keine Kleinigkeit bei einem Volk, in welchem die historische Erfahrung der willkürlichen Vertreibung aus ihren Häusern durch britische Grundherren tiefverwurzelte Ängste im kollektiven Bewußtsein hinterlassen hat.

Fast ein kleines Wunder

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

Fast ein kleines Wunder
Nordirland: Vor 25 Jahren beendete das Karfreitagsabkommen den Bürgerkrieg in der britischen Unruheregion

Daniel Körtel

Die „Internationale Mauer“ in Belfast, an der mitten in der irisch-katholischen Hochburg der Stadt die Divis Street und die Falls Road ineinander übergehen, ist eine Sehenswürdigkeit, die kaum ein Tourist ausläßt. Abwechselnde Wandmalereien verbreiten darauf Propagandabotschaften der irisch-republikanischen Bewegung und der mit ihnen verbundenen sogenannten „Freiheitsbewegungen“ der Palästinenser und Kurden, wie auch des kommunistischen Regimes auf Kuba. Es ist der Nachmittag des Karsamstags, als sich hier die traditionelle Osterparade der Republikaner in Bewegung setzt.

In der irischen Geschichte besitzt Ostern eine über seinen christlichen Bezug weit hinausreichende Bedeutung. Sie verbindet sich mit dem Opfergang irischer Freiheitskämpfer, die Ostern 1916 von Dublin aus den Aufstand gegen die britische Oberherrschaft probten. Trotz seines Scheiterns wurde der Osteraufstand zur Initialzündung eines Guerillakrieges, an dessen Ende 1922 die Unabhängigkeit Irlands stand, aber auch die Teilung der Insel in einen katholischen Süden und das weiterhin zu Großbritannien zugehörige, mehrheitlich von Protestanten bewohnte Nordirland.

Den ersten Teil der Kolonne bildet eine Abteilung Männer und Frauen im Marschtritt, in schwarz-grauer Uniform, mit Barett und Sonnenbrille, die irische Trikolore vorantragend, gefolgt von den Flaggen der vier irischen Provinzen. Des weiteren folgen sechs Kinder, die jeweils eine Osterlilie tragen, das Symbol der irischen Freiheit, und ein Porträt eines der 1916 von den Briten hingerichteten Anführers des Osteraufstands. Nach ihnen kommt eine kleine Abordnung der „Antifa“, ausstaffiert wie der „Schwarze Block“, zwischendurch Bengalos zündend. Den Abschluß bildet ein Spielmannstrupp und eine Gruppe aus Angehörigen linksnationalistischer Kämpfer und Aktivisten.

„Die vergangenen 25 Jahre waren besser als die 25 Jahre davor“

Der martialische Aufzug steht in einem denkbaren Kontrast zur übrigen Stimmung in der einstigen britischen Unruheprovinz. Zu Ostern dieses Jahres wird vielfach an das zu Karfreitag 1998 zwischen den Konfliktparteien ausgehandelte Karfreitagsabkommen gedacht, mit dem der 1969 zwischen irisch-katholischen Nationalisten und pro-britischen Protestanten ausgebrochene Bürgerkrieg beendet wurde. Die auch als „Troubles“ bekannten Auseinandersetzungen kosteten weit über 3.000 Menschenleben.

Wie blicken die Provinzbewohner auf die vergangenen 25 Jahre seit Abschluß des Karfreitagsabkommens zurück? Sean, der als Fahrer eines „Black Cab“ – jener schwarzen Taxiflotte, die in den Hochzeiten des Bürgerkriegs den Nahverkehr aufrechterhielt, weil der Busverkehr in den Hotspots infolge der Gewalttätigkeiten zusammenbrach und heute unter anderem Touristenführungen durchführt – ist sichtlich zufrieden: „Die vergangenen 25 Jahre waren besser als die 25 Jahre davor.“ Der Mittfünfziger aus der katholischen Siedlung Ardoyne erinnert sich noch gut an die Zeiten, als er nur durch Käfigschleusen und Leibesvisitationen durch britische Soldaten in die Innenstadt gelangen konnte. Die Sicherheitssituation in der nordirischen Provinzhauptstadt habe sich stark verbessert. Ebenso die soziale Lage der nordirischen Katholiken, die zu den Protestanten aufgeschlossen haben. Hier hebt Sean besonders hervor, daß Stellenbewerber keine diskriminierenden Auskünfte zu ihrer religiösen Identität mehr geben müßten.

Daß nach 25 Jahren Friedensprozeß in Nordirland Grund zum Optimismus besteht, ist fast schon ein kleines Wunder. Krisen im Verhältnis der Parteien untereinander führten mehrfach zum politischen Kollaps, so daß zwischendurch anstelle der Regionalregierung wieder London die Kontrolle übernehmen mußte. Doch 2007 kam es zu sogar zu einer gemeinsam von dem rabiaten Protestantenprediger Ian Paisley als „Erstem Minister“ und dem früheren IRA-Kommandanten Martin McGuinness als seinem Stellvertreter geführten Allparteienregierung; eine bis dahin undenkbar gehaltene Verbindung zweier einstiger Erzfeinde, aus der sogar eine persönliche und familiäre Freundschaft beider Protagonisten wurde, wenngleich nicht vor den Kameras.

Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, die ohne die ausufernde konfessionell unterlegte Gewalt und die permanente Präsenz britischer Truppen aufgewachsen ist, für die der reformierte Polizeidienst PSNI eine Polizei wie jede andere darstellt und nicht als verlängerter bewaffneter Arm der protestantischen Herrschaft. Ihnen eröffneten sich tatsächlich vollkommen andere Möglichkeiten als den Generationen vor ihnen. Gleichwohl, der Schulsektor ist nach wie vor in konfessioneller Hand.

Die Mehrheit in der Region lehnt den Brexit ab

Mittlerweile haben sich die politischen Verhältnisse jedoch gedreht. Die Veränderungen in der Demographie haben die einstige Dominanz des protestantischen Lagers gebrochen. Aus den Regionalwahlen von 2022 ist die linksnationalistische Sinn Féin („Wir selbst“) als stärkste Kraft hervorgegangen, mit dem Anspruch ihrer Spitzenkandidatin Michelle O’Neil auf das Amt des Ersten Ministers. Doch die DUP (Democratic Unionist Party) verweigert den dazu nötigen Eintritt in die Allparteienregierung. Die von innerparteilichen Streitigkeiten und Skandalen geschüttelte DUP hat als No-Partei offenbar bis heute noch nicht in eine neue Rolle unter den geänderten Bedingungen gefunden.

Hinzu kommen die Auswirkungen des Brexits, der im Referendum von 2016 mehrheitlich in der Provinz abgelehnt wurde. Die Dinge geraten danach in Bewegung, und erstmals macht sich das republikanische Lager Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem Süden der irischen Insel. Er wisse nicht, was kommen werde, so Sean. Aber: „Change is coming – eine Änderung kommt.“

Zur Feier des Karfreitagsabkommens erwartet Nordirland hohen Besuch. Am vergangenen Dienstag kam US-Präsident Joe Biden zum Auftakt einer viertägigen Irland-Visite nach Belfast. Ihm folgen sein Amtsvorgänger Bill Clinton mit seiner Frau Hillary, die sich damals mit dem US-Sondervermittler George Mitchell entscheidend in den Verhandlungen engagiert haben. Nach den Desastern im Irak und Afghanistan haben die Amerikaner die Erinnerung an frühere Erfolge bitter nötig. Zu ihnen gesellt sich der damalige britische Premier Tony Blair, der den Frieden in Nordirland anfangs einen „unperfekten Frieden“ nannte. Auch er hat angesichts seiner ihm von den Briten nach wie vor nachgetragenen Beteiligung am Irak-Krieg der USA den strahlenden Glanz früherer Erfolge bitter nötig.

Irland ändert Kurs gegenüber Migranten

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG – www.jungefreiheit.de   Ausgabe 8-23 15.02.23

Irland ändert Kurs gegenüber Migranten

DUBLIN. Der steigende Migrationsdruck auf die Republik Irland hat zu einer Kursänderung der bürgerlich-nationalkonservativen Regierung unter Ministerpräsident Leo Varadkar geführt. In der Vergangenheit zeigte sich Irland bislang sehr offen gegenüber Migration, doch vorige Woche auf dem Brüsseler EU-Gipfel zum Thema Migration offenbarte Varadkar eine veränderte Tonart. „Wir müssen gerecht zu Flüchtlingen sein, weil Flüchtlinge willkommen sind in Irland, und Menschen, die unseren Schutz benötigen, sollten ihn bekommen. Wir sollten auch konsequent gegenüber Menschen sein, die mit falschen Geschichten und Vortäuschungen kommen“, so Varadkar, der ebenso von beschleunigten Asylverfahren und raschen Abschiebungen sprach. (dk)

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