Berichte und Bilder zum Nordirlandkonflikt

Monat: Februar 2021 (Seite 3 von 5)

„In die Knechtschaft sperren“

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/12 09. März 2012

„In die Knechtschaft sperren“
Irland: Der EU-Fiskalpakt muß vom Volk in einem Referendum gebilligt werden / Regierung plädiert für ein Ja, während die Opposition Morgenluft wittert
Daniel Körtel

Als im vergangenen November Griechenlands Premier Papandreou sein Volk in einem Referendum über das EU-Rettungspaket abstimmen lassen wollte, mußte er sein Vorhaben letztendlich kleinlaut aufgeben. Doch was den Griechen versagt wurde – die Befragung über sie massiv betreffende EU-Vorhaben –, muß in Irland dem Volk vorgelegt werden. Somit kündigte Irlands Premier Enda Kenny ein Referendum über den beim EU-Gipfel vereinbarten Fiskalpakt an, das Ende Mai oder Anfang Juni stattfinden soll. Die Brüsseler Elite zeigte sich überrascht, da der Fiskalpakt keinen Souveränitätstransfer umfasse. Doch empfahl der Rechtsberater der irischen Regierung ein Referendum, da der neue Vertrag außerhalb der bisherigen EU-Vertragsarchitektur stehe.

Mit seiner Ankündigung hat Kenny eine heftige Debatte in Regierung und Opposition entfacht. Sozialministerin Joan Burton von der Labour Party, die als Juniorpartner in einer Koalition mit Kennys bürgerlicher Fine Gael die Regierung bildet, forderte von der EU eine Reduzierung der irischen Schuldenlasten, um die Zustimmung zum Fiskalpakt zu erleichtern. Kenny hingegen lehnte einen solchen Handel mit dem Hinweis auf die „Unbestechlichkeit“ der Iren ab. Er zeigte sich überzeugt, daß die Iren „im besonderen nationalen Interesse“ der Vorlage zustimmen werden.

Doch auf dem falschen Fuß traf es die nationalkonservative Fianna Fáil. Die einstige ewige Regierungspartei, die vor einem Jahr über die Wirtschaftskrise in die Opposition abstürzte, geriet über die zustimmende Unterstützung des Referendums durch Parteichef Micheál Martin in schwere innerparteiliche Turbulenzen. Der an der Basis und im Volk populäre Vize-Parteichef Éamon Ó Cuív, Enkel des legendären Staatsgründers Éamon de Valera, mußte umgehend seinen Posten räumen, nachdem er sich gegen Martin gestellt hatte.

Ó Cuív zeigt sich als Wiederholungstäter. Er hatte schon 2001 in Ministerverantwortung öffentlich gegen den EU-Vertrag von Nizza opponiert. Ó Cuív sieht in dem Referendum die einmalige Gelegenheit, Irlands Schulden neu zu verhandeln. Weiterhin kritisierte er die deutschen Banken als Mitverursacher der irischen Finanzkrise und warnte vor einer deutsch-französischen Dominanz in Europa, gegen die Irland jetzt Stellung beziehen solle.

Ó Cuívs Sichtweise auf die deutsche Rolle in der Krise mag schon jetzt einen Vorgeschmack auf die Tonart geben, in der die Debatte weiterlaufen könnte. Zwar bleiben antideutsche Ressentiments wie in Griechenland aus, aber in den Medien mischen sich beispielsweise Analysen über deutsche Steuerzahler, die man beschwichtigen müsse, mit Onlinekommentaren ihrer Leser, die Ó Cuívs Sorge vor einer deutsch-französischen Dominanz teilen, unter der das kleine Land unterzugehen drohe.

Unter den im Parlament vertretenen Gruppierungen zeigen sich einzig die United Left Alliance und die linksnationalistische Sinn Féin geschlossen gegen den Fiskalpakt, der nach Ansicht der Abgeordneten Joan Collins „das irische Volk zu unseren und unserer Kinder Lebzeiten in Knechtschaft sperren“ werde. Sinn Féin-Präsident Gerry Adams richtete an die Regierung die Frage, ob sie wie im Falle der ersten gescheiterten Referenden zu den Verträgen von Nizza und Lissabon einfach noch mal wählen lasse, bis das gewünschte Ergebnis vorläge.

Doch so weit wird es vermutlich nicht kommen. Dieses Mal hätte ein irisches Nein keinen Einfluß auf den fortlaufenden Prozeß. Der Fiskalpakt tritt in Kraft, sobald ihn zwölf der 17 Euro-Staaten ratifiziert haben. Zudem bleibt den Iren gar keine andere Wahl als dem Vertragswerk zuzustimmen. Denn auf Drängen der Bundesregierung enthält der Vertrag eine Klausel, nach der Euro-Staaten nur dann Mittel aus dem permanenten Europäischen Rettungsschirm ESM entnehmen können, wenn sie den Fiskalpakt ratifiziert haben. Dieses Element dürfte sicherlich noch für einiges böses Blut sorgen.

Volksgruppe im Belagerungszustand

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/11 22. Juli 2011

Volksgruppe im Belagerungszustand
Nordirland: Am Orange Day feiern die Protestanten den Gründungsmythos ihrer Provinz / Höhepunkt der Paradesaison und gewalttätiger Auseinandersetzungen
Daniel Körtel

Es liegt nicht am Sommer, daß in Nordirland der Juli der heißeste Monat des Jahres ist. Wie auf einer Fieberkurve steigen von Ostern an die Spannungen zwischen den Volksgruppen der pro-britischen Protestanten und der pro-irischen Katholiken. Anlaß für Auseinandersetzungen bieten vor allem die Paraden, die fester Bestandteil der politisch-religiösen Kultur sind. Zu den bedeutendsten Paraden zählen die am 12. Juli. Es ist Orange Day, der höchste Feiertag der Protestanten.

Schwere Paukenschläge, Trommlerrhythmen und Querflötenklänge untermalen mit Marschmusik den langen Zug von 70 Logen des Oranier-Ordens durch die Belfaster Innenstadt, die größte Parade zum 12. Juli. In einem gleichförmigen Muster folgen jedem militärisch uniformierten Spielmannszug die Brüder der jeweiligen Loge, jeder umhangen mit der obligatorischen orangenen Schärpe. Einige Logenbrüder zeigen sich zusätzlich sehr traditionell in Anzug und Bowler-Hut. Rund 250.000 Zuschauer sind zugegen, darunter einige Jugendliche eingehüllt in die Flaggen des Union Jack oder Nordirlands.

An der Spitze jedes Zugabschnitts wird die jeweilige Logen-Standarte vorangetragen. Ihre Darstellungen zeigen vor allem biblische Motive, beispielsweise aus dem Leben Jesu oder Ereignisse aus der Geschichte der nordirischen Protestanten wie die Schlacht an der Somme von 1916, die unter den protestantischen Soldaten einen extremen Blutzoll forderte. Krone, Zepter und die Bildnisse britischer Monarchen drücken die Verbundenheit mit der Monarchie aus. Häufigstes Symbol ist die Rote Hand von Ulster, wie Nordirland von den Protestanten auch oft genannt wird. Doch immer wieder findet sich wie eine Ikone das Bild von „King Billy“, dem englischen König William III. aus dem Hause Oranien-Nassau, auf den der Orange Day zurückgeht.

Am Orange Day feiern die nord-irischen Protestanten den Gründungsmythos ihrer Provinz, die Schlacht am Boyne von 1690, in der Protestant William seinen katholischen Vorgänger und Schwiegervater Jakob II. besiegte. Doch was viele Iren als den Ausgangspunkt jahrhundertelanger Unterdrückung ihres Volkes und ihrer Kirche ansehen, interpretieren auf der anderen Seite die Protestanten als einen Triumph der Freiheit über den Absolutismus, der die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie erst in die Wege leitete.

1795 gegründet, ist der Oranier-Orden nach wie vor eine tragende Institution im kulturellen und sozialen Gefüge der protestantischen Volksgruppe mit Verbindungen in die pro-britischen Parteien und protestantischen Kirchen. Umstritten wegen seiner anti-katholischen Attitüde und seines teilweise militanten Auftretens, aber vor allem wegen seiner Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen, hat seine Bedeutung infolge sinkender Mitgliederzahlen nachgelassen. Der über den gesamten angelsächsischen Raum verbreitete Orden soll in Irland nur noch über rund 36.000 Mitglieder verfügen. Dennoch zeigt der Orange Day, daß der Orden nach wie vor über ein beeindruckendes Mobilisierungspotential verfügt.

Zeichen des protestantischen Triumphs sind auch die zahlreichen Freudenfeuer in den protestantischen Wohngebieten, mit denen traditionell der Orange Day am Vorabend eingeleitet wird. Über Wochen hinweg schichten die Bewohner Holzpaletten und Autoreifen bis zu haushohen Bergen auf, auf deren Spitze wie auf einem Scheiterhaufen vor dem Anzünden eine irische Trikolore aufgesetzt wird. Auf manchen Scheiten sind zusätzlich grüne Trikots der unter Katholiken populären Fußballmannschaft Celtic Glasgow angebracht.

Samuel Morrison, Pressesprecher der Traditional Unionist Voice, der kleinsten im nordirischen Regionalparlament vertretenen protestantischen Partei, weist gegenüber der JUNGEN FREIHEIT darauf hin, daß es zwischen Belfast und dem ländlichen Raum einen Unterschied in den Feierlichkeiten gäbe. Während auf dem Land stärker Wert auf religiöse Traditionen gelegt würde, nähmen in Belfast viele Feiernde den Tag als Anlaß zu ausgiebigen Alkoholkonsum.

Dem Friedensprozeß zum Trotz kommt es am 12. Juli nach wie vor zu Gewaltausbrüchen. So lieferten sich in diesem Jahr im katholischen Stadtteil Falls irisch-nationalistische Jugendliche mit den Sicherheitskräften heftige Auseinandersetzungen. Diese setzten sich auch am nächsten Tag fort, als eine protestantische Parade gegen den Protest der Bewohner durch die katholische Siedlung Ardoyne zog. Veränderte Siedlungsmuster sind der ständig wiederkehrende Hauptgrund für die Gewalt, da die Paraden traditionell Wegstrecken durch Gebiete folgen, die früher von Protestanten bewohnt waren.

Am Orange Day zeigt sich die nord­irische Gesellschaft nach wie vor gespalten. Doch auch hier werden seit 2006 Bemühungen unternommen, die Parade in Belfast unter dem Paradigma des Friedensprozesses umzugestalten. Die Kontroll-Behörde der Parades Commission hat hierzu vor einigen Jahren eine Kampagne gestartet – aus dem Orange Day soll das Orangefest werden. Nicht ohne Absicht ist der neue Name aus der deutschen Sprache entlehnt und erinnert an das weltbekannte Münchener Oktoberfest. Weg vom spalterischen Image, hin zu Weltoffenheit und Inklusivität, die vor allem auch Touristen anziehen soll.

Jedoch sind erhebliche Zweifel angebracht, ob die Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden. Die Vorstellung, daß sich am 12. Juli auch nur ein Katholik freiwillig in die Innenstadt von Belfast begibt, um einer Oranier-Parade beizuwohnen, ruft unter Katholiken nur Gelächter hervor. Die Parade ist für ihre Volksgruppe nach wie vor von einem unverkennbaren provokativen Charakter. Sie nutzen den Feiertag wie einen gewöhnlichen Werktag oder entfliehen zum Kurzurlaub vor allem in die benachbarte irische Grafschaft Donegal.

Doch auch unter Protestanten ruft die Kampagne wegen ihres neuen Anspruchs Kritik hervor. Brian Kennaway, Historiker des Orange Order, zeigte bei der Vorstellung der Pläne Verständnis für die Skepsis der katholischen Seite und betonte, daß der Oranier-Orden in seiner tiefen Natur ausschließlich inklusiv für Protestanten sei und Katholiken ausschließe. Tiefer kann die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit kaum ausfallen. In der Frage, wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, bleibt die Behörde nach wie vor eine befriedigende Antwort schuldig.

In diesem Jahr zeigen sich die Änderungen nur in Marginalien. Vor dem Rathaus stehen vier Imbißstände, nur wenige Ladengeschäfte in der Innenstadt nutzen die neue Möglichkeit, an dem Feiertag zu öffnen. Eine Besucherin aus Übersee, die vor mehr als 30 Jahren ihre nordirische Heimat verließ, bestätigt, daß sich an der Parade zu früher eigentlich nichts geändert habe. Die neue Weltoffenheit des Orangefests könne sich nur bei Protestanten und Touristen entfalten.

Die versuchte Umgestaltung des 12. Juli zum Orangefest ist nur ein Symptom einer Entwicklung, die viele Protestanten als eine kontinuierliche Erosion ihrer Kultur und Identität wahrnehmen. Bereits 2002 warnte der damalige Nord-irlandminister John Reid vor der Gefahr, daß Nordirland „eine kalte Heimat für Protestanten“ werden könne. Die Verbundenheit zu Großbritannien wird als einseitig empfunden, seit die britische Regierung 1990 erklärte, sie habe kein strategisches Interesse an Nord­irland. Was allgemein als Meilenstein zum Friedensprozeß anerkannt wird, sahen wiederum viele Protestanten als Ausverkauf ihrer Interessen durch das Mutterland.

Der starke innere Zusammenhalt der katholischen Volksgruppe und die demographische Entwicklung entfalten eine Dynamik, die die Mehrheitsverhältnisse und Balance in wenigen Jahrzehnten umkehren könnte und schon jetzt die Selbstwahrnehmung der Protestanten als eine „Volksgruppe im Belagerungszustand“ bestärkt. Dann wäre für die katholischen Nationalisten die Zeit reif, den gegenwärtigen Status der Provinz als Teil der britischen Union in Frage zu stellen und das Ziel einer Wiedervereinigung des Nordens mit der Republik Irland in einem Referendum zur Wahl zu stellen.

Doch selbst unter diesen für sie günstigen Voraussetzungen könnten sich die Nationalisten verrechnen. Wie eine kürzlich veröffentlichte Umfrage ergab, wünschen derzeit lediglich 33 Prozent der nordirischen Katholiken die Vereinigung mit dem Süden, während eine deutliche Mehrheit von 52 Prozent den Verbleib in der Union bevorzugt. 1998 ergab die gleiche Umfrage noch eine Zustimmung von 49 Prozent für den Süden gegen 19 Prozent für die Union. Nationalistische Politiker reagierten mit Verblüffung und Unglauben. Doch angesichts des desaströsen wirtschaftlichen Niedergangs des einstigen „keltischen Tigers“ kann dieses Resultat kaum überraschen. Vermutlich hängen die nordirischen Katholiken mit ihrem Kopf doch näher an der britischen Union als mit dem Herzen an der Republik.

Karfreitagsabkommen

Die Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens (Stormont-Abkommen) am Karfreitag, den 10. April 1998, gilt als Wendepunkt in der Geschichte Nord­irlands. Unterzeichner waren die britische und irische Regierung sowie die Mehrheit der Vertreter der pro-britischen Protestanten- und irisch-republikanischen Katholikenparteien.

Irland gab unter anderem seine territorialen Ansprüche auf Nordirland auf. Großbritannien stimmte der Möglichkeit einer Vereinigung Irlands zu, sofern die Mehrheiten dafür vorhanden sind, und Protestanten sowie Katholiken stimmten zudem ihrer Entwaffung zu. Mehr als 13 Jahre später stellt sich die Situation weitaus entspannter dar. Dennoch kommt es nach wie vor zu als „sectarian attacks“ bezeichneten politisch-religiös motivierten Gewalttaten.

Fotos: Es ist Orange Day, der höchste Feiertag der Protestanten: Laut Kontroll-Behörde der Parade soll aus dem traditionellen Orange Day ein weltoffenes Orangefest werden; Freudenfeuer-Vorbereitung

Fehlender Kitt

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/10 26. November 2010

Fehlender Kitt
Irland: Die Furcht vor dem Ende der Souveränität
Daniel Körtel

Zu Beginn trat der rebellische Protest der Iren gegen ihre Regierung nur vereinzelt in Erscheinung und blieb, abgesehen von einigen Eier- würfen, überwiegend friedlich. Wo am Sonntag vor dem Dubliner Regierungsgebäude noch ein einsamer Demonstrant sich dem Dienstwagen einer Ministerin in den Weg stellte, stand am Montag bereits eine größere Gruppe Protestierender vor dem Tor und schwenkte irische Fahnen und Plakate der linksnationalistischen Sinn Féin.

Wohnsektor als sichtbares Zeichen des Niedergangs

Das irische Volk scheint noch nicht in Stimmung zu sein, um in Massen auf die Straße zu gehen, zu offensichtlich ist die dramatische Ausweglosigkeit leerer Kassen und maroder Banken. Schneller als erwartet haben Premierminister Brian Cowen und sein Finanzminister Brian Lenihan am Sonntagabend die Öffentlichkeit über den formellen Antrag auf Finanzhilfe informiert.

Nach Ansicht irischer Medien und Oppositionspolitiker ist damit das Ende der irischen Souveränität gekommen, weil sich das Land dann den Anweisungen und Vorgaben des Internationalen Währungsfonds IWF und der EU unterwerfen müßte. Das ist keine Bagatelle für ein Volk, das in einem zähen Ringen erst vor 88 Jahren die jahrhundertelange britische Oberherrschaft abschütteln konnte. Schon das wiederholte Ablehnen von EU-Verträgen zeigte, daß man hier sehr auf die eigene Unabhängigkeit bedacht ist und allergisch auf ungebetene Ratschläge aus dem Ausland reagiert. Cowen hat diese Ansicht eines externen Diktats jedoch entschieden zurückgewiesen.

Im Zentrum vieler Befürchtungen über die Konsequenzen des Rettungsschirms steht die Körperschaftssteuer, die mit ihrem niedrigen Satz von 12,5 Prozent den wichtigsten Vorteil des irischen Wirtschaftsstandorts ausmacht und deren Erhalt den Iren in den Verhandlungen über den Vertrag von Lissabon ausdrücklich versichert wurde. Gleichwohl hat am vergangenen Wochenende Frankreichs Staatspräsident Sarkozy hierzu den Druck erhöht.

Eines der sichtbaren Zeichen des irischen Niedergangs sind die 2.800 Wohnsiedlungen, die infolge des zusammengebrochenen Immobiliensektors nicht fertiggestellt werden konnten. Da das Geld für ihren Unterhalt fehlt, steht den Häusern dieser „Geister-Siedlungen“ der Verkauf zum Spottpreis oder das Ende durch den Abrißbagger bevor. Die Iren werden sich auf eine längere Durststrecke einrichten müssen. Ihnen drohen drastische Einschnitte im öffentlichen Dienst und den Sozialleistungen, Steuererhöhungen und die Reduzierung des Mindestlohns.

Über die Ökonomie hinaus stellt die Krise auch die Wertefrage in den Vordergrund. Nach dem erodierenden Ansehensverlust der politischen Klasse und dem Ausfall der katholischen Kirche nach eklatanten Mißbrauchsskandalen fehlt der Kitt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der durch die vorliegende Periode des Wohlstandsverlustes trägt. Die Irish Times beklagte „einen schockierenden Mangel an Solidarität in unserem eigenen Land, eine Art der Anbetung des materiellen Erfolgs, der meinte, wer auch immer nicht mithalten könne, sei einfach ein Verlierer. Jetzt sind wir alle Verlierer“.

Der Absturz der irischen Wirtschaft zieht nun auch die Regierung mit in den Abgrund. Die Ereignisse auf der grünen Insel entfalten in diesen Tagen eine Dynamik, die die Jamaika-Koalition aus der national-konservativen Fianna Fail und den Grünen in Auflösung versetzt. Cowen hat mit seiner wiederholten Versicherung, das Land brauche keine Finanzhilfen, nicht nur seine Glaubwürdigkeit bei den Wählern restlos verspielt, sondern auch bei seinem grünen Koalitionspartner. Ebenso haben zwei unabhängige Abgeordnete der Regierung ihre Unterstützung entzogen.

Der grüne Parteivorsitzende und Umweltminister John Gormley erklärte den Sinneswandel seiner Partei damit, daß die vergangenen Wochen traumatisch für die irischen Wähler gewesen wären: „Das Volk fühlt sich hintergangen und verraten.“ Der Premier beugte sich und kündigte Neuwahlen an, die voraussichtlich für Januar terminiert werden, nach der Verabschiedung des drakonischen Haushaltsplans für das kommende Jahr.Doch statt ihre Hoffnungen auf eine Änderung der politischen Lage oder einen möglichen Aufschwung zu richten, setzen nicht wenige Iren wieder auf die für das Land klassische Alternative der Migration. Selbst die TEEU, eine der größten irischen Gewerkschaften, gab inzwischen ihren Mitgliedern in einem Seminar einschlägige Hilfestellungen für Auswanderungswillige. Ihnen bereits vorausgegangen ist die Flucht Tausender osteuropäischer Arbeitsimmigranten zurück in ihre Heimatländer, als vor zwei Jahren der Absturz einsetzte.

Der Tag, an dem alle Menschen Iren sind

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/09 27. März 2009

Der Tag, an dem alle Menschen Iren sind
Nationalfeiertag mit kosmopolitischem Anspruch: Im Angesicht von Wirtschafts- und Identitätskrise beging Irland den St. Patrick’s Day

Daniel Körtel

Wild gestikuliert der Mann im grün-goldenen Bischofsornat mit seinem Krummstab in die Luft, auf dem Kopf trägt er eine Mitra mit Keltenkreuz, seine Augen sind geschützt von einer grüngefaßten Sonnenbrille. Gelegentlich unterbricht er seine Gesten zum Gespräch mit den Zuschauern.

Was wie die grelle Wiederkehr des Heiligen Patrick auf seine grüne Insel als Popstar erscheint, ist ein Schauspieler, der in der Dubliner Innenstadt die diesjährige traditionelle Parade zum St. Patrick’s Day, dem irischen Nationalfeiertag am 17. März, anführt. Nach einzelnen Militäreinheiten folgt ihm ein langer Festzug von zwei Stunden Dauer mit Spielmannszügen und Schaustellern aus der ganzen Welt. Nach etwa der Hälfte der Strecke stoppt jede Gruppe vor der Ehrentribüne gegenüber dem Hauptpostamt an der O’Connell Street, dem legendären Schauplatz des blutig niedergeschlagenen Osteraufstands von 1916, um Präsidentin Mary McAleese die Ehre zu bezeugen.

Das bunte Spektakel durchteilt ein Menschenmeer, in dem Grün als die dominierende Farbe hervortritt. Sie rührt her von den zerknautschten Zylindern, die die meisten Zuschauer tragen. Auf vielen Hutbändern steht die nicht ganz ernst gemeinte Aufforderung „Kiss me, I’m Irish – Küss mich, ich bin Ire“. Die ulkigen Hüte sollen an Leprechauns erinnern, die Kobolde aus Irlands Märchenreich. Viele Kinder wiederum haben ihre Gesichter mit den Farben der irischen Trikolore – Grün, Weiß, Orange – oder ihre Wangen mit dem Nationalsymbol des Kleeblattes geschminkt. Die patriotische Kostümierung nimmt vereinzelt auch aufwendigere Formen an.

Während andere Staaten an ihrem Nationalfeiertag revolutionärer Akte oder kriegerischer Ereignisse gedenken, wählten die Iren für diesen Zweck den Todestag ihres Inselmissionars Patrick, der noch nicht einmal aus Irland stammte. Und für einen Todestag geht es dabei erstaunlich fröhlich zu. Sein einstmals religiöser Charakter ist mit der seit 1995 erstmals erlaubten Öffnung der Pubs ohnehin fast restlos verlorengegangen und nur noch der Namensgeber erinnert an die frühere Bedeutung. Die an diesem Tag ausgestrahlte Weltpremiere einer Folge der US-Comic-Serie „Die Simpsons“ mit inhaltlicher Verknüpfung zum St. Patrick’s Day macht statt dessen anschaulich, wie sich selbst der irische Nationalfeiertag inzwischen den Gesetzen des marktwirtschaftlich orientierten Marketings angepaßt hat.

„Sky is the limit – Nach oben hin offen“, lautet in diesem Jahr das ambitionierte Motto des sechstägigen Festivals mit einem umfangreichen Unterhaltungs- und Kulturprogramm, dessen krönenden Abschluß die Parade bildet. St. Patrick’s Day ist dabei mehr als irischer Karneval. An diesem Tag zeigt sich Irland so, wie es von der Welt am liebsten gesehen werden möchte. Die Iren wollen nicht allein das ewige Klischee des etwas chaotischen, humorvollen und ausgelassen feiernden Paddy bedienen, sondern sich als ein weltoffenes und global orientiertes Volk präsentieren, was im Hinblick auf die Exportorientierung seiner Wirtschaft nicht weiter verwunderlich ist. Denn erst die Globalisierung ermöglichte dem einstigen Entwicklungsland und Armenhaus den Aufstieg zum High-Tech-Dienstleister.

Da ist es nicht ohne Ironie, daß ausgerechnet diese Globalisierung dem einstigen Wirtschaftswunderkind wiederum einen tiefen Fall beschert hat. Schwer getroffen von der geplatzten Immobilienblase und der globalen Finanzkrise fiel das Land als erstes EU-Mitglied in die Rezession. War es noch vor zwei Jahren nur eine Frage von wenigen Stunden, bis ein Neuankömmling in Dublin, der dynamischen Hauptstadt der Republik Irland, eine Arbeitsstelle fand, macht nun nach Jahren der Vollbeschäftigung zum ersten Mal seit den depressiven 1980er Jahren eine Generation die schmerzhafte Erfahrung der Arbeitslosigkeit, deren Quote im rasanten Tempo die Marke von zehn Prozent durchbrochen hat.

Ministerpräsident Brian Cowen warnte seine Landsleute, ihr Lebensstandard könne demnächst um mehr als zehn Prozent sinken, während Finanzminister Brian Lenihan schmerzhafte Entscheidungen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ankündigte und Irland um seine ökonomische Zukunft kämpfen sieht. Die Entscheidung des amerikanischen Computerherstellers Dell, seine Fertigung in Limerick einzustellen und 1.900 Arbeitsplätze nach Polen zu verlagern, ist ein ernstzunehmender Indikator dieser Verschiebungen, in denen das Brüllen des „Keltischen Tigers“ zu einem kläglichen Maunzen zusammengeschnurrt ist, das auf keine Maus mehr Eindruck macht. Irlands Vorbildrolle für andere unterentwickelte Ökonomien ist dahin, statt dessen wird das Land heute in einem Zug mit osteuropäischen Pleitekandidaten genannt.

Über diese trüben Aussichten haben Massenproteste es in den vergangenen Monaten in der Dubliner Innenstadt eng werden lassen. Da kommt der St. Patrick’s Day genau richtig, um wenigstens an einem Tag Abstand von den kummervollen Sorgen zu gewinnen. „Stop Worrying! Things are bad enough – Hört auf euch zu ängstigen! Die Dinge sind schlimm genug“, appelliert treffend das Plakat einer Paradegruppe an die rund 675.000 Zuschauer, unter denen viele Besucher aus dem Ausland sind. Das Festival ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Tourismusbranche, die im vergangenen Jahr einen spürbaren Rückgang der Besucherzahlen hinnehmen mußte. Darüber hinaus dient der St. Patrick’s Day dazu, die Beziehungen zu den Iren im Ausland zu bekräftigen, die auch in der Diaspora ihre Herkunfts­identität hochhalten.

Aber neben Folklore, Selbstpräsentation und Traditionspflege bietet das Festival seit mehreren Jahren Anlaß, über den Zustand der irischen Identität zu reflektieren, nachdem die Modernisierung der vergangenen zwei Jahrzehnte zur Auflösung der Einheit von nationaler und religiöser Identität geführt hat. Irlands Gesellschaft ist heute im Post-Katholizismus angekommen. Es besteht eine tiefe Unsicherheit darüber, was es heute heißt, irisch zu sein.

Hinzu kommt die Masseneinwanderung, die dem bislang ethnisch homogenen Gesicht Irlands eine facettenreichere Note gegeben hat. Zum St. Patrick’s Day 2007 wähnte die Irish Times euphorisch die Iren bereits in einem postnationalen Zeitalter angekommen: „Wir alle sind heute das gesprenkelte Volk. Selbstbewußt, wohlhabend, nach vorne schauend, internationalistisch, können wir es uns leisten, unsere Identität in Begriffen zu definieren, die unsere überlappende Vielfältigkeit von Loyalitäten und Verschiedenheit feiern. Das neue Irland ist mehr ein Zustand des Herzens als ein Sinn für einen Ort.“

Gesellschaftlicher Wandel kann die Neubewertung und -ausrichtung liebgewonnener Traditionen erfordern, um den Zusammenhalt eines Gemeinwesens auch unter geänderten Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Patricks integrative Rolle besteht heute nicht mehr als religiöse Symbolfigur, sondern in der Betonung seines Vorbildcharakters als friedlicher Gestalter des graduellen Übergangs heidnischer Stammesgesellschaften zur christlichen Zivilisation. Die Spätantike grüßt die moderne Einwanderungsgesellschaft.

In diesem Sinne erinnerte in diesem Jahr die irisch-katholische Kirche dezent daran, daß Patrick zunächst als Migrant aus Britannien nach Irland kam. Das ist allerdings eine sehr beschönigende Umschreibung für die Verschleppung eines Jugendlichen durch irische Plünderer in die Sklaverei.

Doch die postnationale Gesellschaft liegt in erster Linie im Bestreben des kulturellen Establishment und der politischen Elite Irlands. Aber da noch lange nicht ausgemacht ist, ob die Iren als Volk dabei auch mitziehen, wird auch die Organisation des St.-Patrick’s-Festivals in das pädagogische Instrumentarium miteinbezogen, um sie auf diesen Wandel einzustimmen. „City Fusion“ ist der Name jenes Projekts, zu dem sich verschiedene Initiativen in Anlehnung an Festivalleitung und städtische Einwanderungsbehörde zusammengeschlossen haben, um die urbane Vielfalt des modernen Dublin und seiner Einwandergruppen abzubilden. Ihre Präsentationen sind seit 2007 fester Bestandteil des Paradezugs. „Konferenz der Vögel“ lautet in diesem Jahr der Titel des Ensembles von der Geschichte über eine Gruppe von Vögeln, die durch die Überwindung von einsperrenden Vorurteilen zu einer neuen Wertschätzung des Lebens finden. Doch wie weit die Realität von derartigen idealistischen Wunschvorstellungen entfernt ist, zeigen die gleichzeitigen Krawalle in den Dubliner Unterschichtenvierteln, in denen jene Iren leben, die sich offenbar zurückgelassen fühlen.

Doch es wäre falsch, den neuen inklusiven Anspruch des Festivals allein den Effekten der Säkularisierung und der Zuwanderungen zuzuschreiben. Es geht auch um die Signalwirkung an den britischen Norden der Insel, wo die Parademärsche katholischer und protestantischer Fraktionen regelmäßig für Zündstoff sorgten.

Der Friedensprozeß in der einst notorischen Unruheprovinz hat bereits bedeutende Fortschritte erzielt, denen auch die jüngsten Anschläge republikanischer Splittergruppen nichts anhaben können. In den letzten Jahren ist man dazu übergangen, den polarisierenden Charakter der Paraden abzumildern. Gerade hier bietet sich Patrick als gemeinsame Symbolfigur und Bezugsperson an, auf die sich alle Lager mit ihren religiösen Traditionen beziehen können. Die in diesem Jahr in Belfast veranstaltete St. Patrick’s Parade war die größte seit langer Zeit.

Der St. Patrick’s Day ist zu Irlands bedeutendstem kulturellen Exportschlager mit kosmopolitischer Qualität aufgestiegen, selbst dort wo keine nennenswerten irischen Auslandsgemeinden existieren. Er ist zu einem Tag geworden, an dem alle Menschen Iren sind oder es zumindest einmal sein wollen. Die größte Parade hierzulande fand am vergangenen Sonntag in München im Beisein des irischen Landwirtschaftsministers Brendan Smith statt.

Man mag die Popularität des irischen Nationalfeiertags in Deutschland unter zwei Aspekten interpretieren: als Ausdruck einer romantisch gestimmten Sympathie zu Irland, deren Wurzeln bis zu den Gebrüdern Grimm zurückreichen – oder als handfestes Symptom der eigenen Identitätskrise.

Fotos: Die Spitze der traditionellen Parade: Ein Schauspieler im Ornat, Einwanderergruppen auf der Parade: „Vorurteile überwinden“, Spaß am Patriotismus: Ohne Grün-Weiß-Orange und das obligatorische grüne Kleeblatt läuft nichts

Die irischen Kinder des Papstes

Irland-Journal, XIX, 4.2008

Die irischen Kinder des Papstes

Die demographische Entwicklung war für Irland immer schicksalbestimmend

Von Daniel Körtel

In seiner Erzählung Irisches Tagebuch von 1957 schildert Heinrich Böll die Zukunftserwartungen der 17jährigen Siobhan, dem ältesten von neun Kindern der Mrs. D. Nur für sie bestand – neben zwei bis drei ihrer Geschwister – die Aussicht auf Heirat und Auskommen in der irischen Heimat. Den übrigen stand zwangsläufig bereits im Jugendalter das Schicksal der Auswanderung bevor, nicht allein um des eigenen Überlebens wegen, sondern auch um mit Überweisungen die zurückgebliebene Verwandtschaft zu unterstützen. Derartige Familien mit mehr als fünf Kindern waren in Irland früher die Norm, mehr als zehn Kinder durchaus nicht ungewöhnlich.

Kinderreichtum, bittere Armut und Auswanderung waren seit jeher kennzeichnend für die grüne Insel am nordwestlichen Rand Europas. Erst mit dem beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg Irlands zum „Keltischen Tiger“ änderte sich das.

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Votum ohne Reue

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/08 03. Oktober 2008

Votum ohne Reue

Irland: Auch vier Monate nach dem Scheitern des EU-Vertrags weiß niemand, wie es weitergeht

Daniel Körtel

Auch vier Monate nach dem gescheiterten Referendum über den EU-Vertrag ist weder die irische Regierung noch Brüssel einer Lösung nähergekommen. Einerseits hat sich die EU nach der Osterweiterung in mühevollen Verhandlungen auf diesen Vertrag von Lissabon als neue Handlungsgrundlage geeinigt, andererseits kann dieser nur durch die Zustimmung aller EU-Staaten in Kraft treten. Über das Stadium der Fehleranalyse ist die Regierung in Dublin bislang nicht hinausgekommen.

Eine im September vorgestellte Meinungsumfrage ergab, daß 42 Prozent der Vertragsgegner wegen Wissensmängeln und Verständnisschwierigkeiten mit „No“ gestimmt haben. Aus den gleichen Gründen blieben 46 Prozent der Nichtwähler der Abstimmung fern. Das ist wenig überraschend, wurde doch der Vertragstext bewußt in einer so vieldeutigen und hochkomplexen Sprache geschrieben, damit er seinen Verfassern auch die Interpretationsherrschaft darüber garantiert. Eine allgemeinverständliche Version des Textes könnte den Interessen seiner Urheber sogar zuwiderlaufen. Weiterhin ergab die Umfrage, die von der irischen Regierung in Auftrag gegeben wurde, daß der Vertrag eine besonders hohe Ablehnung bei den Beziehern niedriger Einkommen (65 Prozent), bei Frauen (56 Prozent) und in der Alterskategorie der 25- bis 34jährigen (59 Prozent) erfuhr.

Da eine Neuverhandlung des EU-Vertrags bislang strikt abgelehnt wird, könnte nur ein zweites Referendum zu einem geeigneten Zeitpunkt die Lösung bringen. Die Chancen dafür dürften aber angesichts der schlechten Popularitätswerte von Premier Brian Cowen und seiner Jamaika-Koalition aktuell schlecht stehen. Vorerst holte sich Cowen in aller Heimlichkeit Rat in Kopenhagen, wie man Ausschlußklauseln aushandeln könne, ähnlich wie die Dänen zum Vertrag von Maastricht. Ein sehr verwegener Vorschlag wiederum regt an, daß das Parlament den Vertrag am Wähler vorbei ratifizieren sollte, ausgenommen die strittigen Punkte und Bestandteile, die in die Verfassung eingreifen. Diese könnten später in einem Referendum dem Wahlvolk vorgelegt werden. Auf die Spitze treibt es die „nukleare Option“, die auf die grundsätzliche Zustimmung der Iren zur EU setzt und in einem Referendum das positive Votum zum EU-Vertrag mit dem weiteren Verbleib des Landes in der EU verbinden will.

Trotz des von der französischen EU-Ratspräsidentschaft ausgeübten Drucks auf Dublin, bis zu den Europawahlen 2009 zu einer Lösung zu kommen, wird ein wie auch immer formuliertes Referendum nicht vor Herbst 2009 erwartet. Vor allem Paris und Berlin hoffen aber bis dahin auf eine Ratifizierung, noch vor den Wahlen zum britischen Unterhaus Mitte 2010. Denn ein Sieg der Konservativen könnte dem Lissabonner Vertrag endgültig den Todesschuß versetzen, da der Tory-Chef David Cameron versprochen hat, ein britisches Referendum abzuhalten, sollten die Iren den Vertrag bis dahin nicht abgesegnet haben. Währenddessen redet sich die politische Elite Irlands ein, daß das irische Volk die Konsequenzen seiner Entscheidung irgendwann in ihrem Sinne reflektiert.

Doch derzeit sieht es nicht so aus, als ob die Iren ihre Entscheidung bereuten. Inzwischen geht selbst die dem EU-Projekt bislang wohlgesonnene katholische Kirche auf Distanz. Ende August beklagte ihr Primas Kardinal Seàn Brady in einer vielbeachteten Rede die zunehmende Verdrängung christlicher Werte durch säkulare Tendenzen in der EU. Weiterhin wies er auf die offen feindselige Haltung hin, die innerhalb der EU-Institutionen jenen entgegenschlage, die ihren christlichen Glauben offen bekunden. Hier rächt sich zweifellos die rüde Behandlung, die der italienische Katholik Rocco Buttiglione (JF 49/05) erfuhr, als er 2004 für die EU-Kommission kandidierte und nach einer heftigen Kampagne aus dem EU-Parlament seine Ambitionen aufgeben mußte.

Auf Sankt Patricks heiligem Berg

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/08 15. August 2008

Auf Sankt Patricks heiligem Berg
Irland: Im Pilgerzug den Croagh Patrick erklimmen / Wildromantischer Reiz, unsägliches Leid und unerschütterlicher Glauben

Daniel Körtel

Die von Bergen ausgehende Faszination ist ungebrochen, auch wenn sie meistens nur noch sportlich herausfordert. Einen Berg erklimmen Alpinisten und Wanderer, „weil er da ist“. Doch in prä-säkularen Zeiten kam den Bergen noch eine religiöse Qualität zu, die sie zu heiligen Orten aufwertete, an denen sich das Göttliche den Menschen offenbarte – so wie Gott gegenüber Moses, als er sich für vierzig Tage und Nächte auf den Sinai zurückzog, wo er die Zehn Gebote empfing.

Zu den religiösen Gestalten, die nach Moses‘ Vorbild den Rückzug in die Einsamkeit des Berges als mystisches Erlebnis erlebten, gehört auch der Heilige Patrick, der Apostel der Iren. 441 nach Christus stieg er in einer Phase religiöser Zweifel über seine Mission auf den Cruachan Aigli, betend und fastend, 40 Tage lang.

Um seinen Aufenthalt dort ranken sich viele Legenden. So soll er mit Rabenvögeln gekämpft, mit einem Boten Gottes um die Seelen der Iren gefeilscht und Irland von den Schlangen befreit haben. Letzteres ist zweifellos eine Allegorie auf die Druiden, die sich mit Schlangensymbolen tätowierten.

Nach Patricks Abstieg adaptierte die irisch-katholische Kirche das bis dahin dem Keltengott Lugh geweihte Naturheiligtum für ihre eigenen Zwecke, und im Laufe der Zeit bekam der Berg seinen heutigen Namen: Croagh Patrick.

Nur wenige Kilometer westlich von Westport ragt der 765 Meter hohe Croagh Patrick direkt an der Clew Bay empor. Die Landschaft, über die der graue kegelförmige Berg mit dem abgeplatteten Gipfel wacht, gehört zur Grafschaft Mayo in der irischen Provinz Connacht. Hier im „wilden Westen“ der Insel, so sagt man, sei Irland am irischsten, auch weil sich dort einige der wenigen gälischen Sprachinseln erhalten haben.

Es ist eine dünnbesiedelte Region, die in ihrem rauhen Charakter einen wildromantischen Reiz auf die Touristen ausübt, aber in der Geschichte der Iren mit unsäglichem Leid verbunden ist: „Mayo – Gott hilf uns!“ riefen sie früher bei der Erwähnung der Grafschaft aus, als gelte es sich den Fluch, der auf einem ganzen Land liegt, vom Leib zu halten.

Menschlicher Raubbau und ein Klima mit ergiebigen Niederschlägen und teilweise starken Atlantikwinden haben Connacht zur unwirtlichsten Gegend der grünen Insel verkommen lassen. Ein großer Teil der Provinz ist durchzogen von Hochmooren und kargen, steinigen Böden.

Weiterhin dominieren kahle Mittelgebirge, in deren Tälern wie Flickenmuster moderne Fichten- und Kiefernpflanzungen angelegt sind. „Nach Connacht oder zur Hölle“, rief die englische Kolonialmacht, bevor sie im 17. Jahrhundert nach einem niedergeschlagenen Aufstand irische Grundbesitzer aus den fruchtbaren Regionen ausgerechnet hierher vertrieb.

Es ist der letzte Sonntag im Juli, der Tag, der im religiösen Kalender Irlands traditionell für den „Reek Day“, die Wallfahrt auf den Croagh Patrick, reserviert ist. Diese älteste und bedeutendste Wallfahrt des Landes gilt den katholischen Iren wegen ihrer ununterbrochenen Durchführung über die Jahrhunderte hinweg als Ausdruck ihres unerschütterlichen Glaubens und ihres nationalen Selbstbehauptungswillens, selbst durch die Zeiten kolonialer Besatzung und anti-katholischer Strafgesetze. Seit den frühen Morgenstunden treffen Pilger aus dem ganzen Land ein.

Für irische Verhältnisse herrscht gutes Wetter. Die Sicht zum Gipfel ist frei von Nebel und Wolken, was nicht oft der Fall ist. Gelegentlich taucht die Sonne durch die dichte Wolkendecke den Berg in ein helles Licht. Erst zum Nachmittag wird kurzzeitig Regen aufkommen.

Gegenüber dem Parkplatz, auf der anderen Seite der an dem Berg vorbeiführenden Straße, erinnert seit 1997 ein Monument an die Opfer der Großen Hungersnot (1845-1849). Es stellt die Nachbildung eines „Sargschiffes“ dar, in dessen Takelage und Rumpf Skelette eingearbeitet sind. Viele der geschwächten Passagiere, die auf diesen Schiffen nach Übersee fliehen wollten, überlebten aufgrund der unzumutbaren Bedingungen an Bord nicht die Fahrt.

Zwangsläufig forderte diese Hungersnot, an der eine Millionen Iren zugrunde gingen, im damals überbesiedelten Connacht die meisten Todesopfer. In der naß-feuchten Witterung fand die Braunfäule, die über Jahre hinweg die Kartoffelernten vernichtete, ideale Wachstumsbedingungen.

Die Frage, ob die Londoner Regierung einer vergleichbaren Katastrophe in ihren englischen Kernlanden ähnlich tatenlos zugesehen hätte wie sie es in Irland tat, beantwortet der britische Publizist Terry Eagleton knapp: „Wahrscheinlich nicht.“

Die Statue des heiligen Patrick ist die erste Anlaufstelle der Pilger, nachdem sie einige Devotionalienhändler und religiöse Aktivisten passiert haben. Von hier aus führt über ein Gebirgsmassiv ein fünf Kilometer langer Pfad zum Gipfel, der etwa zwei Stunden in Anspruch nimmt. Das Bett des unebenen Pfades besteht aus hartem, dicken Geröll von Quarzit. Fast jeder stützt sich auf diesem strapaziösen Weg mit einem Stock ab. Vom Berg herab kommen einem die ersten Rückkehrer entgegen, die bereits in der Nacht aufgebrochen sind.

Unter den Pilgern sind erstaunlich viele junge Menschen, sogar Kleinkinder werden wie zu einem Familienfest mitgenommen. Ein Familienvater schafft gar die Leistung, das eine Kind auf dem Rücken hinauf zu tragen, während er das andere an der Hand hält. Die Stimmung ist heiter und locker, keineswegs meditativ und selbstversunken. Man hält auch gerne an für einen Plausch oder führt Gespräche übers Mobiltelefon.

In Patricks Fußstapfen tretend, gehen die Pilger regelrecht über Gold: Prospektoren entdeckten Ende der 1980er Jahre ergiebige Goldadern im Berg und beantragten damals ihren Abbau.

Nur der vereinte Widerstand von Kirche und Umweltschützern konnte den heiligen Berg vor derartiger Ausbeutung schützen. Im seltsamen Kontrast zu diesen enormen materiellen und ideellen Werten des Croagh Patrick steht leider das auffallend respektlose Verhalten mancher Pilger, die ihn trotz Hinweisschildern mit ihren Abfällen verschandeln.

Nach der Hälfte des Weges steht Leacht Benain an, die erste traditionelle Station, an der die Pilger unter Verwendung des Rosenkranzes ihre rituellen Bußübungen praktizieren. Sieben Runden sind im Uhrzeigersinn in Richtung der Sonne um den Steinhaufen abzulaufen, in denen sieben Vaterunser, sieben Ave Maria und ein Glaubensbekenntnis zu beten sind. Doch nur die gewissenhaften unter den Pilgern vollziehen diese Übungen, während die meisten anderen daran vorbeigehen.

Der ersten Station schließen sich später auf dem Gipfel zwei weitere mit ähnlichem Ritus an – The Summit und Roilig Mhuire. In allen drei Stationen sind uralte Elemente keltischer Spiritualität integriert, in denen sich das Leben als ewiger Kreislauf symbolisiert.

Das letzte Drittel des Weges ist das schwerste Teilstück. Die Steigung nimmt deutlich zu, so daß das Geröll unter den Füßen wegzurutschen droht. Doch dann endlich ist der Gipfel mit der kleinen weißen Kapelle erreicht. Wie zur Belohnung eröffnet sich den Pilgern der imposante Ausblick auf die Clew Bay mit ihren rund dreihundert Inseln, bei dem selbst hartgesottene Agnostiker die Ehrfurcht der Gläubigen vor Gottes Schöpfung nachempfinden müßten.

Zur Buße gehört auch Leiden. Je größer der Schmerz, um so gewisser sind dem Pilger die Aussichten auf Sündenvergebung. Dementsprechend vollziehen einige die Wallfahrt sogar barfuß. So wie Gerry (35) und Brian Diver (28): Die beiden Brüder aus dem nordirischen Derry haben sich bei ihrer insgesamt siebten Teilnahme aus religiösen Gründen erstmals dazu entschlossen, diese besondere Form der Buße zu praktizieren. Sie sehen diese quälende Prozedur als ein Gebot Gottes an, wie sie erklären.

Dichte Menschenmassen sammeln sich um den Platz vor der Kapelle, an dem Erzbischof Michael Neary die Heilige Messe zelebriert. „Wir erinnern uns der Worte Christi über den Glauben, der Berge versetzen würde; heute beten wir, daß dieser heilige Berg den Glauben bewegen wird“, ruft Neary in seiner Predigt der Menge zu. „Hail Glorious St. Patrick“ stimmt der Chor zum Abschluß an. Mit dem melodischen Refrain dieser Hymne – „In Erin’s green valleys…“ – wird die Ergriffenheit der Gläubigen deutlich spürbar.

Der Zuspruch zum „Reek Day“ war dieses Jahr außergewöhnlich groß. Statt der üblichen 20.000 Pilger nahmen diesmal rund 35 bis 40.000 an der Wallfahrt teil – ein neuer Rekord. Es ist, als hätte sich ein ganzes Volk auf diesen Berg in Bewegung gesetzt, um die positive Wirkung gemeinschaftlich erlebter Religiosität zu erfahren. „Sagen Sie“, fragt eine Pilgerin stolz, „gibt es etwas Vergleichbares auch in Deutschland?“

Ohne Rücksicht auf die Political Correctness

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/08 25. Juli 2008

Ohne Rücksicht auf die Political Correctness
Irland: Der Kolumnist Kevin Myers provoziert nicht nur Antirassismus-Initiativen / Libertärer Geist ohne Tabus

Daniel Körtel

Konflikte sind dem irischen Journalisten Kevin Myers nicht fremd. Seine Laufbahn führte den 61jährigen als Berichterstatter durch die Krisengebiete Nordirland, Libanon und Bosnien. Auch als Kolumnist ist es ihm nie schwergefallen, selber Konflikte zu provozieren. In seinen sarkastischen und polarisierenden Stellungnahmen gegen Zuwanderung, Multikulturalismus oder Feminismus nimmt er keinerlei Rücksicht auf die Political Correctness, was ihm oft großen Ärger einbrachte.

Dabei läßt sich Myers nicht einfach in das gängige Rechts-Links-Schema pressen. Er befürwortete 2003 den Irak-Krieg und lobte George W. Bush – er hielt den US-Präsidenten aber auch schon für „verrückt“. Einerseits betont national und identitätsbewußt, beanstandet er auf der anderen Seite das offizielle Gedenken an irische Rebellionen und fordert stattdessen die Anerkennung für jene irischen Soldaten, die in der britischen Armee in den beiden Weltkriegen kämpften. Myers steht der katholischen Kirche kritisch gegenüber und tritt für die Legalisierung der Prostitution ein – gleichzeitig nannte er die Kinder von jungen ledigen Sozialhilfeempfängerinnen „Bastards“.

Aktuell entzündete sich eine heftige Rassismus-Kontroverse über einen am 10. Juli erschienenen Artikel im Irish Independent, für den Myers seit 2006 schreibt. Unter dem Titel „Afrika gibt niemandem etwas – außer Aids“ stellte Myers in der meistverkauften Tageszeitung Irlands den Nutzen der westlichen Hunger- und Entwicklungshilfe für Afrika in Frage. Sein düsteres Afrika-Bild zeigt „einen Kontinent voller sexuell hyperaktiver Einheimischer, mit Millionen von Menschen, die nur überleben, weil sie auswärtige Hilfe erhalten.“ Schließlich fragte er, wieviel Moral darin bestehe, „heute ein äthiopisches Kind vor dem Hungertod zu bewahren, damit es überlebt für ein Leben mit brutaler Beschneidung, Armut, Hunger, Gewalt und sexuellem Mißbrauch“. Seiner Ansicht nach begründen sich die Probleme Afrikas in einem katastrophalen Bevölkerungswachstum, das durch die Hilfsprogramme noch unterstützt wird. Der „selbstsüchtigen Freigebigkeit“ des Westens warf Myers vor, ein Fluch für Afrika zu sein und Regime zu erhalten, die ohne sie kollabiert wären.

Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Artikels nahm die irische Polizei eine Anzeige des Irischen Rats für Einwanderer (ICI) gegen Myers auf. Die sogenannte Nichtregierungsorganisation (NGO) beschuldigt ihn, mit seinem Artikel zum Haß anzustiften und damit gegen geltendes Recht zu verstoßen. Weiterhin erfolgte eine Eingabe an den irischen Presserat durch das Nationale Beratungskomitee Rassismus und Interkulturalismus (NCCRI), welches ankündigte, ebenfalls Anzeige zu erstatten.

Bislang hat sich Myers, der den Aufschrei voraussah, nicht offiziell zu der Anzeige geäußert. Seine Kolumne erschien auch weiterhin, wie gewohnt im sarkastischen Stil. Einen seiner letzten Beiträge, eine Klage über das mangelnde militärische Engagement des Westens in Afghanistan, verband er mit einem Seitenhieb gegen die deutschen Isaf-Soldaten, die nachts nicht auf Patrouille gingen, weil „dort ganz, ganz eklige Taliban um sie herum sein könnten. Und das, guter Gott, aus dem Land von Guderian, Rommel und von Stauffenberg.“

Die Kevin-Myers-Kolumnen im Internet: www.independent.ie/opinion/columnists/kevin-myers/

Die Grenzen der Dankbarkeit

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/08 20. Juni 2008

Die Grenzen der Dankbarkeit
Irland: Scheitern des EU-Referendums stürzt die Regierung in eine Krise / Neue Rechtspartei?

Daniel Körtel

Das irische Volk hat im Referendum über den EU-Reformvertrag von Lissabon eine deutliche Botschaft nach Brüssel geschickt: Auch nach großzügigen Milliardenzuwendungen aus EU-Kassen ist die irische Dankbarkeit ab dem Punkt an ihre Grenzen gelangt, wenn die eigenen nationalen Interessen nicht gewahrt bleiben. Das entsprechende Votum fiel deutlicher aus als erwartet: 53,4 Prozent sagten „No“ zum EU-Vertrag, nur 46,6 Prozent stimmten zu. Mit 53,1 Prozent war die Wahlbeteiligung außergewöhnlich hoch.

Erhebliche Ablehnung erfuhr der Vertrag vor allem in ländlichen Gebieten und in den städtischen Arbeiter-Bezirken. Hier hat die EU ihren Vertrauenskredit weitgehend verspielt. Die Bauern sehen sich einer ruinösen EU-Agrarpolitik ausgesetzt, während die Arbeiter unter Konkurrenzdruck durch die Zuwanderung aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten stehen. Aber auch in der Mittelschicht zeigte eine signifikante Minderheit ihre Vorbehalte.

Politische Analysten haben unter den vielen Ursachen zwei Hauptgründe für den Sieg des „No“-Lagers ausgemacht. Zum einen waren viele Wähler durch den unverständlichen und komplexen Vertragstext verunsichert. „Yes“-Aktivisten beklagten, sie hätten angesichts dessen die Wähler nicht überzeugen können. In dieser Situation waren groteske Überzeichnungen von Politikern wie die allen Ernstes vorgetragene Warnung vor einem „neuen Auschwitz“ im Falle einer Ablehnung oder die Verunglimpfung der Vertragsgegner als „Bekloppte“ kontraproduktiv. Derartiges mußte beim Wähler zwangsläufig das Gegenteil dessen bewirken, was beabsichtigt war. Der zweite ausschlaggebende Faktor war der starke Sinn der Iren für ihre nationale Identität, dem eine nur passive pro-europäische Haltung gegenübersteht. Umfragen belegen, daß dieser Punkt im Laufe der Kampagne an Bedeutung gewann, und damit einhergehend die Befürchtungen um Irlands Neutralität und den Einfluß des Landes in der EU verstärkte. „Es ist offensichtlich, daß die Abhaltung eines Referendums über eine tiefergreifende Integration der EU in einer politischen Kultur, in welcher fast zwei Drittel der Wählerschaft sich ausschließlich einer bestimmten nationalen Identität zugehörig fühlen (in diesem Fall irisch), niemals ein Spaziergang werden kann“, so ein Demoskop in der Irish Times.

Mit dem Scheitern des Referendums mußte Irlands Premier Brian Cowen gleich zu Beginn seiner Amtszeit eine bittere Niederlage einstecken. Er leistete sich im Vorfeld taktische Fehler wie das seltsame Eingeständnis, er habe den von ihm mitausgehandelten Vertrag nicht vollständig gelesen, gleichwohl sei in ihm alles zum Wohle Irlands enthalten. Seine „Jamaika“-Koalition steckt nun in einer tiefen Krise, und in den nächsten Monaten muß sich erweisen, ob er das Nein seiner Landsleute verstanden hat.

Freuen hingegen kann sich die linksnationalistische Sinn Féin, die als einzige Parlamentspartei den Vertrag vehement abgelehnt hat. Ihr Präsident Gerry Adams verglich das Referendum mit dem biblischen Kampf von David gegen Goliath: „Und Goliath verlor ein weiteres Mal.“ Doch der Hauptverdienst am „No“-Sieg gebührt zweifellos der von dem konservativ-liberalen Geschäftsmann Declan Ganley gegründeten Nichtregierungsorganisation Libertas, die wie eine Lokomotive alle anderen Vertragsgegner zum Triumph führte. Der 39jährige Chef der IT- und Militärtechnik-Firma Rivada Networks war zunächst jahrelang Anhänger von Cowens wirtschaftsfreundlicher Fianna Fáil. Doch der drohende Verlust des irischen EU-Kommissars und das absehbare Ende der niedrigen irischen Unternehmenssteuern waren dem früheren EU-Freund dann doch zuviel.

Ganley beanspruchte diesen Triumph (den er mit angeblich 1,3 Millionen Euro aus seiner Privatkasse gesponsert hat) nicht allein für die irische Demokratie, sondern für Millionen von EU-Bürgern, die ebenfalls gegen den Vertrag sind, aber nicht dazu befragt wurden: „Wir, die Bürger Irlands, sind das Volk, das enger mit den europäischen Gefühlen verbunden ist als die Brüsseler Elite.“

Der Erfolg von Libertas zeigt aber auch eine Lücke im irischen Parteienspektrum auf. Hier ist durchaus Platz für eine gegen das derzeitige Establishment gerichtete, EU-skeptische, rechtsnationale Partei, die sich aber zugleich den traditionellen katholischen Familienwerten verbunden fühlt. Gelänge es Libertas, sich zur Partei zu wandeln, könnte sie diese Lücke durchaus füllen.

Ein schlechtes Geschäft für die Grüne Insel

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/08 06. Juni 2008

Ein schlechtes Geschäft für die Grüne Insel

Irland: Zwei Wochen vor dem Referendum über den EU-Vertrag ist das Rennen nach wie vor offen / Widerstand von links und rechts

Daniel Körtel

Kaum im Amt, richtete der neue irische Ministerpräsident Brian Cowen (JF 20/08) eine ernste Warnung an seine nationalkonservative Partei Fianna Fáil („Soldaten des Schicksals“). Er werde innerhalb der eigenen Reihen keine abweichende Meinung zum EU-Reformvertrag von Lissabon tolerieren, über dessen Annahme die Iren am 12. Juni als einziges EU-Mitglied in einem Referendum abstimmen. Cowen forderte von seiner Partei eine energische Kampagne um die Zustimmung zum Vertragswerk ein. Jedem Parlamentsmitglied, das statt dessen die Nein-Kampagne unterstütze, drohte er den Ausschluß aus der Partei an.

Cowens harte Rhetorik, mit der er die partielle Abschaffung der innerparteilichen Demokratie begründete, hat seinen Grund, denn an der Ratifizierung des Vertrags hängt seine Reputation im In- und Ausland. Bereits 2001 hatten die Iren in einem Referendum den EU-Vertrag von Nizza unerwartet durchfallen lassen. Statt das Votum zu akzeptieren, ließ die Regierung das Volk ein Jahr später erneut abstimmen. Aber nach einer überwältigenden Medienkampagne gaben die Wähler dem Vertrag doch noch ihren Segen.

Weniger als drei Wochen vor dem Referendum sieht eine aktuelle Meinungsumfrage die Lücke zwischen beiden Seiten wieder am Schrumpfen. Das Ja-Lager ist mit 41 Prozent in Führung, während die Gegner mit einem Zugewinn von 28 auf 33 Prozent deutlich aufholen konnten. Der mit 26 Prozent hohe Anteil der unentschlossenen Wähler macht das endgültige Ergebnis des Referendums nach wie vor zu einem offenen Rennen. Im irischen Parlament gibt es – mit Unterstützung von Wirtschaftsverbänden und fast aller Gewerkschaften – einen breiten Konsens aus Regierung und Opposition, der den EU-Vertrag im „vitalen Interesse“ des Landes sieht. Die als Koalitionspartner der FF mitregierenden irischen Grünen gehen jedoch ohne Empfehlung in das Referendum, da ein erheblicher Teil der Parteibasis dem positiven Votum ihrer Führung nicht folgen wollte. Bei früheren EU-Referenden standen die irischen Grünen noch fest auf Seiten der Euroskeptiker.

Lediglich die linksnationalistische Sinn Féin („Wir selbst“) stellt sich als einzige parlamentarische Partei bewußt abseits und führt ihre Kampagne unter dem Slogan „Ein schlechtes Geschäft für Irland“. Diese Haltung entspricht der Tradition der Partei. Neutralität und Souveränität sind für SF zwei wichtige Grundprinzipien, die sie aus der historischen Erfahrung eines früheren Koloniallandes ableitet. Sie hat daher seit dem Beitritt des Landes zur EG konsequent jeden EU-Vertrag abgelehnt.

Außerparlamentarisch hat sich hingegen eine vielfältige und hochmotivierte Oppositionsbewegung gegen den EU-Vertrag gebildet. Die führende Gruppe ist Libertas, gegründet von dem Geschäftsmann Declan Ganley. In einem medienwirksamen Coup gelang es ihm, mit Ulick McEvaddy einen prominenten Unternehmer mit engen familiären Verbindungen zum politischen Establishment auf seine Seite zu ziehen, der den komplexen Vertragstext als „vieldeutiges und unverständliches Gefasel“ disqualifizierte.

Irlands Position in der EU, so sind sich die Widerständler einig, werde durch den mit dem Vertrag einhergehenden Kompetenzverlust der Nationalstaaten stark geschwächt zugunsten eines Machtzuwachses der Brüsseler Zentrale hin zu einem antidemokratischen EU-Superstaat. Das Land verliere dadurch das automatische Recht auf einen ständigen EU-Kommissar sowie die Hälfte seiner Stimmen in der Ministerversammlung. Die Abschaffung des Veto-Rechts in zentralen Fragen befördere die Gefahr von Entscheidungen, die Irland nicht mehr stoppen kann. Auch drohe den regierungsamtlichen Beteuerungen zum Trotz eine europaweite Steuerharmonisierung auf Kosten Irlands, das mit seinen niedrigen Körperschaftssteuern einen besonderen Standortvorteil hält.

Weiterhin unterminiere die im Vertrag festgeschriebene gemeinsame Verteidigungspolitik und die Verpflichtung zu steigenden Verteidigungsausgaben die in der irischen Verfassung verankerte Neutralität – sie hatte Irland vor den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs bewahrt. Einige Gewerkschaften plädieren ihrerseits für „No“ und überdenken sogar ihre langgehegte Unterstützung für die EU. Ihre Vision von einem sozialen Europa sehen sie durch aktuelle Urteile konterkariert, in denen der Europäische Gerichtshof die EU-Entsenderichtlinie und die Dienstleitungsfreiheit über nationale Schutzstandards für Arbeitnehmer stellte.

Siptu, die größte Gewerkschaft Irlands, scheiterte in ihren Bemühungen, ihre Zustimmung zum EU-Vertrag mit einer gesetzlichen Aufwertung des Gewerkschaftsstatus zu verbinden. Sie zog damit die Lehre aus den Auswirkungen, die der seinerzeit von ihr befürwortete Nizza-Vertrag in Irland verursachte: „Kurz nach der Ratifizierung öffnete die Regierung im Interesse der Wirtschaft die Grenzen für Arbeiter aus den neuen Beitrittsstaaten, ohne den gesetzlichen Schutz der Arbeitnehmer mit nur einer Silbe zu erhöhen“, erklärte Siptu-Präsident Jack O’Connor.

Für katholische Aktivisten stehen (ähnlich wie in Polen) aber auch christliche Werte auf dem Spiel. Der fehlende Gottesbezug im EU-Vertrag repräsentiert für sie den säkularen Charakter einer Union, die für eine Erleichterung der Abtreibung auch in Irland eintritt. Dem vordergründigen „Krieg der Worte“ – mit teilweise schrillen Ausschlägen – um das EU-Referendum und allen parteitaktischen Maulkörben zum Trotz zeigt sich in diesen Wochen der besondere Reifecharakter der irischen Demokratie: Eine offene Debatte ist hier nicht die Ausnahme, sondern die Regel. In Deutschland kann man davon nur träumen.

In der Heftigkeit der Auseinandersetzung deutet sich vielleicht auch eine Abkehr vieler Iren von „Europa“ an, für die stellvertretend Kolumnisten wie Kevin Myers stehen. Myers erkennt zwar die Rolle der EU bei der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierung des Landes an. Doch auf der anderen Seite macht er die EU wegen der Politik der offenen Grenzen verantwortlich für die Massenzuwanderung auf den Kontinent und damit zu einer ernsten Gefahr für die irische Identität: „Nun, wenn wir diese europäische Verfassung unterzeichnen, trotz demographischer Veränderungen und Bevölkerungsbewegungen, könnte die irische Insel in etwa 30 Jahren vielleicht nicht mehr als irisch zu erkennen sein. Gut, man mag eine solche Zukunft für total verrückt halten. Aber kann irgend jemand versichern, daß dem dann nicht so ist?“

Beschmierte EU-Werbung in Irland:
Sorge um die Neutralität / © Daniel Körtel
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