Berichte und Bilder zum Nordirlandkonflikt

Monat: Februar 2021 (Seite 1 von 5)

Nach dem Referendum ist vor dem Referendum

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Ausgabe 06/21 / 05. Februar 2021

Nach dem Referendum ist vor dem Referendum
Schottland: Durch den Brexit gewinnen die Befürworter einer Unabhängigkeit von Großbritannien Aufwind
Daniel Körtel

Eigentlich wurde das schottische Unabhängigkeitsreferendum im September 2014 selbst von seinen Betreibern als ein Projekt innerhalb einer Generation angesehen. Die Schotten entschieden damals zu 55 Prozent für einen Verbleib in der Union mit dem Vereinigten Königreich von Großbritannien. Doch es wurde nur zwei Jahre später nach dem erfolgreichen Brexit-Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union klar, daß die von der Schottischen Nationalpartei SNP geführte Regionalregierung bald einen erneuten Anlauf starten würde. Nach dem erfolgreichen Abschluß der Austrittsverhandlungen zwischen London und Brüssel kommen nun aus Edinburgh hierzu erste konkrete Signale.

Für die schottischen Regionalwahlen im kommenden Mai hat Schottlands Regierungschefin und SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon ein zweites Referendum ins Zentrum ihrer Wahlkampagne gerückt. Ihr Staatssekretär Mike Russell hält gar ein Referendum noch vor Weihnachten für möglich, innerhalb von sechs Monaten nach seiner gesetzlichen Implementierung.

Doch selbst bei einem Wahlsieg dürfte es der SNP schwerfallen, ihr Versprechen auch umzusetzen. Die Gesetzeslage weist die Verantwortung für ein Referendum eindeutig der britischen Regierung in London zu. Ein Referendum ohne die Zustimmung aus London wäre illegal, warnte der britische Minister für Schottland, Alister Jack.

Ein solches hätte – vergleichbar wie im Falle Kataloniens – auch den Nachteil, daß es vom Ausland nicht anerkannt werden würde. Seine Ablehnung eines weiteren Referendums hat der konservative britische Premier Boris Johnson wiederholt bekräftigt. Sollte er seine Weigerung aufrechterhalten, sieht die Strategie der SNP vor, den Weg über die Gerichte einzuschlagen.

Doch ungeachtet des Ziels einer schottischen Unabhängigkeit ist nach wie vor offen, wie ihre Befürworter diese ausgestalten wollen. Bislang sind wesentliche Fragen wie die Währung, die Außenvertretung und die Rolle der Königin in einem unabhängigen Schottland ungeklärt. Vor allem die Währungsfrage gab bei dem Referendum von 2014 mit den Ausschlag, da London damals kategorisch ausschloß, daß das britische Pfund weiterhin die Währung eines unabhängigen Schottlands sein könne.

Die letzten Meinungsumfragen sehen kontinuierlich eine Mehrheit zugunsten einer Unabhängigkeit Schottlands, zuletzt mit 49 zu 45 Prozent. Ungeachtet dessen erklärte Johnson vergangene Woche bei einem offiziellen Schottland-Besuch, den er im Rahmen der Corona-Bekämpfung unternahm, daß die Schotten ein weiteres Referendum nicht als ihre Priorität betrachten. Statt dessen sah er in der gemeinsamen Herausforderung durch die Pandemie sogar eine Stärkung der Union.

Doch nicht allein in Schottland sind durch den Brexit erste Auflösungserscheinungen der britischen Union sichtbar. Auch in der britischen Provinz Nordirland ist hierüber im Hinblick auf eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland Bewegung geraten. In einem Interview mit der Irish Times erklärte Sturgeon jüngst, daß sie mit ihren Freunden in Irland manchmal darüber witzele, was zuerst kommen werde, ein unabhängiges Schottland oder ein vereinigtes Irland: „Wer weiß? Möglicherweise wird nichts davon passieren. Aber ich glaube fest daran, daß ein unabhängiges Schottland kommen wird. Vielleicht werden wir in nicht allzu langer Zeit beides sehen.“

Gegen die Zensur durchgesetzt

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/21 / 15. Januar 2021

Gegen die Zensur durchgesetzt
Irlands Homer: Vor achtzig Jahren starb der Schriftsteller James Joyce
Daniel Körtel

Es war ein bescheidenes Ende für einen großen Geist: Als vor achtzig Jahren, am 15. Januar 1941, der irische Schriftsteller James Joyce auf einem Züricher Friedhof beerdigt wurde, fand sich nur eine kleine Trauergemeinde ein. Der Schweizer Tenor Max Meili sang „Addio terra, addio cielo“ aus Monteverdis Oper „L’Orfeo“, aber kein offizieller irischer Vertreter nahm an dem Begräbnis teil.

Joyce war zwei Tage zuvor nach einem operativen Eingriff verstorben, dem er sich in der Schweiz während seiner Flucht aus Frankreich vor dem Vormarsch der deutschen Armee unterziehen mußte. Mit ihm ging einer der bedeutendsten Schriftsteller, die Irland jemals hervorgebracht hatte.

Die Jugendjahre des 1882 in einem Vorort von Dublin geborenen Joyce waren geprägt vom sozialen Abstieg seiner Familie, die sie aufgrund väterlicher Fehlleistungen aus großbürgerlichen Verhältnissen in die Elendsviertel der Stadt führte. Die Erfahrungen als Jesuitenschüler setzten ihn in feindlichen Gegensatz zur katholischen Kirche, deren zeremoniellem Gepräge er dennoch weiter anhing. Schon früh entwickelte er Extravaganzen eines Charakters, der entweder genial oder größenwahnsinnig sein mußte.

Chronisch pleite, dem Alkohol hingegeben

Der erste bedeutende biographische Kippunkt dürfte 1904 die Begegnung mit dem Zimmermädchen Nora Barnacle gewesen sein. Entfremdet von der katholischen Bigotterie und dem Provinzialismus seiner Heimat zog Joyce mit ihr kurz darauf in das selbstgewählte Exil, das ihn zunächst nach Triest führte, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten sowie als Lehrer durchschlug. Die leidenschaftlich-obsessive Beziehung zu Nora, die beide in tiefe Abhängigkeit zueinander trieb, sollte mit seinem Werk in die Literaturgeschichte eingehen.

Chronisch pleite, dem Alkohol hingegeben und von Krankheiten geplagt – vor allem einem schweren Augenleiden –, konnte er seiner Verantwortung als Familienvater nur unzureichend gerecht werden. Doch erregte er mit dem skandalträchtigen Erzählband „Dubliner“ (1914), einer Sammlung von fünfzehn Kurzgeschichten, und dem autobiographischen Roman „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ (1916) erstes Aufsehen. Er fand hierdurch neben der Freundschaft zu Ezra Pound auch die finanzielle Förderung durch vermögende Frauen. Doch auch deren Mittel sollten ihm, der mit Geld nicht umzugehen wußte, nie reichen.

Die Literaturszene reagierte gespalten

Nach vielen Schwierigkeiten veröffentlichte er 1922 in Paris mit „Ulysses“ (dt: „Odysseus“) sein bedeutendstes Werk. Es ist ein komplexes Opus magnum, das angelehnt an Homers Sage der Odyssee den Protagonisten Leopold Bloom einen ganzen Tag – den 16. Juni 1904 – durch Dublin begleitet. Das Datum ist nicht zufällig gewählt; es ist der Tag, an dem Joyce Nora kennenlernte. Der Jahrestag ist heute als Bloomsday fester Bestandteil irischer Folklore, an dem Joyce-Fans in edwardianischer Kleidung in Dublin die „Ulysses“ nachvollziehen.

„Ulysses“ spaltete die Literaturszene wie kaum ein anderes Buch. Mit seinen expliziten Beschreibungen selbst gewöhnlichster körperlicher Vorgänge verstieß es gegen jedes zeitgenössische Tabu; es war „ein Amoklauf zerebraler Sexualität und körperlicher Inbrunst“, wie die Schriftstellerin Edna O’Brien in ihrer James-Joyce-Biographie schreibt. Doch die darin angewandte Erzähltechnik des Inneren Monologs, in dem alles oberhalb der Bewußtseinsschwelle des Protagonisten vermerkt wurde („stream of consciousness“), war für die moderne Literatur ein revolutionärer Schritt.

Dennoch mußte sich das Buch wegen seiner obszönen Passagen vielfach erst gegen die Zensur durchsetzen. Der vielfach als „unlesbar“ bewertete Nachfolger „Finnegans Wake“ wurde weitaus ungnädiger von der Kritik aufgenommen.

In den nachfolgenden Jahren verschlechterte sich Joyce’ Gesundheitszustand erheblich. Zusätzlich überschattete die familiäre Tragödie um seine Tochter Lucia, die der geistigen Umnachtung verfiel, sein Gemüt. Seine Heimat Irland hatte er zuletzt im Sommer 1912 bei einem Kurzbesuch in Dublin gesehen. Er, der sich von ihr verkannt fühlte, nannte sie verächtlich eine „alte Sau“. Und dennoch drehte sich in seinem Werk alles nur um sie. Auf die Frage, wann er wieder nach Irland zurückkehren wolle, sagte er einmal aufschlußreich: „Ich habe es nie verlassen.“

Joyce-Denkmal, O’Connell Street Dublin / © Daniel Körtel, 2011

Irlands nachhaltiges Trauma

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Irlands nachhaltiges Trauma
Vor 175 Jahren verursachte die Kartoffel-Braunfäule auf der Grünen Insel eine Hungersnot / Britische Herrschaft verschärfte das Massensterben
Daniel Körtel

Ein einsames steinernes Kreuz steht neben der Landstraße, die durch das Doolough Valley führt, eine baumlose Talebene in der westirischen Grafschaf Mayo, wo selbst im Sommer ein scharfer, kalter Wind bläst. Es erinnert an eine Tragödie, die sich Ende März 1849 hier zugetragen hatte, als mehrere Hundert verhungernder Iren in der nahe gelegenen Delphi Lodge bei den Vertretern britischer Behörden für die Armenfürsorge um Hilfe ersuchten. Nach einer gewissen Wartezeit – die Beamten wollten sich nicht beim Essen stören lassen – wurde den verzweifelten Menschen erklärt, daß sie keinen Anspruch auf Hungerhilfen hätten. Derart abgewiesen, trat die Menge den Heimweg an, den mindestens sieben von ihnen in ihrem stark geschwächten Zustand nicht mehr schafften. Ihre Leichen wurden später im Doolough Valley gefunden. Weitere Opfer wurden im See des Tals vermutet. Der Vorfall im Doolough Valley ist eingebettet in ein größeres Drama, das als die größte humanitäre Katastrophe im Europa des 19. Jahrhunderts in die Geschichte einging, der irischen Hungersnot von 1845 bis 1849, besser bekannt als der Große Hunger.

Doolough Valley, 2008 / © Daniel Körtel
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Brüsseler Ignoranz

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 37/20 / 04. September 2020

Grüße aus Dublin
Brüsseler Ignoranz
Daniel Körtel

Golf ist eine der größten Leidenschaften der Iren, die nicht nur das einfache Volk miteinander verbindet, sondern auch seine politische Klasse. Einigen Politikern ist diese Leidenschaft nun zum Verhängnis geworden.

Ein am 19. August in einem Hotel im westirischen Clifden abgehaltenes Galadinner im Rahmen eines von der parlamentarischen Golf-Gesellschaft veranstalteten Golfturniers erzeugte ein politisches Erdbeben in der Irischen Republik. Grund war der offensichtliche Bruch der Corona-Regeln, mit denen die Regierung der Ausbreitung der Pandemie entgegenzuwirken versucht, unmittelbar nachdem weitreichendere Einschränkungen erlassen wurden.

Anwesend bei dem Dinner waren rund 80 Teilnehmer und damit deutlich mehr als die noch erlaubten 50, obgleich der Saal durch eine bewegliche Trennwand geteilt wurde, die allerdings für die Reden geöffnet wurde. Ansonsten fanden die Regeln sozialer Distanz keine große Beachtung.

„Hogan verlor am Ende gar das Vertrauen der Kommissionschefin Ursula von der Leyen.“

Bereits am Folgetag berichtete der Irish Examiner. Ministerpräsident Michael Martin tobte ob der Mißachtung der Regierungsbemühungen. Die öffentliche Empörung der Iren, die durch die Schutzmaßnahmen Hochzeiten und Urlaube absagen und einsame Beerdigungen durchführen müssen, war so groß, daß dem „Golfgate“-Skandal prominente Rücktritte folgten.

Doch der bedeutendste Kopf, der rollte, war der des EU-Handelskommissars Phil Hogan, eines der größten politischen Schwergewichte Irlands. Ihm konnten noch weitere Verfehlungen nachgewiesen werden. So hielt ihn die Polizei auf dem Weg nach Clifden an, weil er während der Fahrt am Steuer telefonierte. Ebenso kam heraus, daß Hogan sein in einer Lockdown-Zone befindliches Apartment in Kildare aufsuchte. Sein Unvermögen, seinen Aufenthalt in Irland nach seiner Rückkehr aus Brüssel Ende Juli lückenlos so zu belegen, daß er die Verpflichtung zur 14tägigen Selbstisolation eingehalten hat, brachte ihn schließlich zu Fall. In der Zangenbewegung aus Dublin und Brüssel verlor er am Ende das Vertrauen der Kommissionschefin Ursula von der Leyen und gab seinen Rücktritt bekannt.

Hogan, so heißt es, wurde zum Opfer seiner in der Brüsseler Blase erworbenen Ignoranz, die ihn nicht erkennen ließ, wie sehr sich unter den Restriktionen des Corona-Regimes sein Heimatland verändert hat, in dem selbst die beliebten Pubs voraussichtlich bis Jahresende geschlossen bleiben.

Über den eigenen Schatten gesprungen

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/20 / 24. April 2020

Über den eigenen Schatten gesprungen
Irland: Auf dem Weg zur Regierungsbildung überwinden die Staatsparteien Fianna Fail und Fine Gael ihren alten Gegensatz
Daniel Körtel

Dem auch in Irland geltenden sozialen Abstandsgebot zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zum Trotz sind sich die nationalkonservative Fianna Fail (FF; „Soldaten des Schicksals“) und die bürgerliche Fine Gael (FG; „Familie der Iren“) auf dem Weg zur Regierungsbildung auf einer entscheidenden historischen Stufe näher gekommen. Nun veröffentlichten beide Parteien ein Grundsatzpapier, das die Rahmenbedingungen für eine Große Koalition festlegt. Die wichtigsten Punkte darin betreffen eine Reform des maroden Gesundheitssystems, die Kindesfürsorge, bezahlbaren Wohnraum, die Einführung eines Existenzminimums, die Klimapolitik und vor allem die Bewältigung der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen Folgen.

Erreicht werden sollen diese Ziele ohne eine Rückkehr zur harten Sparpolitik, mit der die zurückliegende Wirtschafts- und Finanzkrise bekämpft wurde. Ebenso sollen die Sozialhilfesätze nicht beschnitten, die Einkommenssteuer nicht erhöht und höhere Aufwendungen durch Kredite finanziert werden.

Da jedoch beide Partner in der Parlamentswahl vom vergangenen Februar nicht genug Stimmen auf sich vereinigen konnten, um die absolute Mehrheit von 80 Sitzen zu erreichen, ist das Papier hinsichtlich der Kosten und Details weitgehend offen und gespickt mit Lockangeboten, mit denen kleinere Parteien wie die Grünen, Social Democrats oder Labour sowie einige unabhängige Abgeordnete für den Eintritt in die kleine Große Koalition gewonnen werden sollen. Als die mit 38 Sitzen stärkste Partei – gegenüber den 35 der FG – kann der FF-Vorsitzende Micheál Martin voraussichtlich den noch amtierenden Ministerpräsidenten Leo Varadkar (FG) ablösen.

Die Große Koalition wäre für Irland ein vollkommen neues politisches Experiment. „Civil War politics“ ist der Inbegriff jenes scheinbar unüberwindlichen Gegensatzes zwischen FF und FG, der seit fast 100 Jahren die irische Politik bestimmt. In ihm schieden sich Befürworter und Gegner des anglo-irischen Vertrages, der 1922 Irland als Freistaat in die Unabhängigkeit entließ. Die neugewonnene Freiheit war aber an gewisse Zugeständnisse gegenüber Großbritannien geknüpft, so den Treueeid zur Krone, britische Marinebasen und vor allem die als besonders schmerzhaft empfundene Abtrennung des protestantischen Nordirlands. Es folgte ein Bürgerkrieg, worauf sich ein Jahr danach die Vertragsbefürworter durchsetzten, die später die FG gründeten, während sich die Verlierer in der FF sammelten. Seitdem bestimmten beide Parteien abwechselnd die Geschicke des Landes.

Das Ergebnis der letzten Parlamentswahl hat dieser traditionellen Machtbalance aus arithmetischen Gründen jedoch die Grundlage entzogen. Weder FF noch FG sind stark genug, eine Regierung zu bilden. Erschwerend kommt hinzu, daß die linksnationalistische Sinn Féin („Wir selbst“; SF) mit 37 Sitzen einen historischen Erfolg verbuchen konnte, der die FF und FG erst deklassierte. So ist der gemeinsame Wille von FF und FG vor allem von dem Konsens getragen, die SF als früheren politischen Arm der Terrororganisation IRA aus jeder möglichen Regierungsbildung herauszuhalten. Im Schatten der Corona-Krise fiel das öffentliche Echo verhalten aus. Lediglich in der FF wird innerparteilicher Widerstand erwartet.

Zurückhaltend hingegen waren die Reaktionen der kleineren Wunschpartner. Ihr Gesprächsbedarf über die Klärung der noch ausstehenden Details ist daher groß.

Der Macht so nah und doch so fern

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/20 / 28. Februar 2020

Der Macht so nah und doch so fern
Irland nach der historischen Parlamentswahl: Regierungsbildung wird problematisch
Daniel Körtel

Kaum einen dürfte der sensationelle Wahlsieg der Sinn Féin (SF, Wir selbst) bei den irischen Parlamentswahlen bitterer aufgestoßen sein als den Eheleuten Stephen und Breege Quinn. Als sich im Wahlkampf der unerwartete Aufstieg der linksnationalistischen Partei abzeichnete, gingen sie in die Öffentlichkeit, um auf den nach wie vor unaufgeklärten Mord an ihrem Sohn Paul im Jahr 2007 aufmerksam zu machen. Paul (21) wurde damals auf einer Farm im nordirischen Armagh so grausam zugerichtet, daß er an seinen Verletzungen verstarb. Der Schlägertrupp kam offenbar aus Kreisen der Terrororganisation IRA.

Für anhaltende Empörung sorgte die seinerzeitige Behauptung des früheren IRA-Kämpfers und heutigen nordirischen SF-Finanzministers Conor Murphy, Paul sei in Schmuggel und Kriminalität verwickelt gewesen.

Die Grünen werden sich teuer verkaufen

Der Aufforderung der Quinns an den in der IRA-Szene bestens vernetzten Murphy, seine Äußerungen zurückzunehmen und sein Wissen um den Mord an die Polizei weiterzugeben, ist er aus ihrer Sicht nur unzureichend nachgekommen, was wiederum die SF unter Druck setzte.

Der Fall Paul Quinn erweitert so die historische Parlamentswahl um eine menschliche Komponente, die ihrer Bedeutung noch stärkere Konturen verleiht. Von ihren Konkurrenten ausgegrenzt, spielte die Partei über viele Jahrzehnte als politischer Arm der IRA nur eine Nebenrolle in der irischen Republik, während sie in Nordirland zur stärksten Kraft im irisch-nationalistischen Lager aufstieg. Zusätzlich machte sie ihre ungeklärte Haltung zur oftmals mit Paramilitärs verwobenen organisierten Kriminalität für jede Zusammenarbeit ungenießbar. Dennoch hat sie seit dem Karfreitagsabkommen von 1998, das den Bürgerkrieg in Nordirland offiziell beendete, auch in der Republik ihren Wähleranteil stetig ausbauen können.

Doch nun hat auch Irland jener Trend in den westeuropäischen Staaten eingeholt, wonach die bislang starke Mitte durch Druck von den Rändern sich zugunsten eines breiter aufgefächerten Parteiensystems aufsplittert. Noch vor 40 Jahren teilten sich die nationalkonservative Fianna Fáil (FF, Soldaten des Schicksals) und die bürgerliche Fine Gael (FG, Familie der Iren) vier Fünftel der Wählerstimmen und wechselten in der Regierung einander ab. Diese Arithmetik geht seit dem 8. Februar nicht mehr auf. Seitdem stehen sich drei etwa gleich starke Parteien gegenüber, die aus der SF mit 24,53 Prozent, der FF mit 22,18 Prozent und der bisherigen Regierungspartei FG mit 20,86 Prozent bestehen.

Der Schub für die SF kam vor allem von jungen Wählern, die keine Verbindung aus eigenem Erleben zu der Vergangenheit des nordirischen Bürgerkrieges mehr haben. Sie fühlen sich aktuell bedrängt von der Wohnungskrise und sehen in eine trübe Zukunft, in der sie durch hohe Mieten trotz guter Ausbildung nie zu einem Eigenheim kommen werden.

Letztlich wurde der Wunsch nach Wandel befördert durch die mangelnde Glaubwürdigkeit der FG, die in neun Jahren an der Macht die Probleme nicht in den Griff bekam, und der FF, der man die Verantwortung für die letzte Wirtschaftskrise nicht vergessen hat.

Die Regierungsbildung gestaltet sich schwierig. Nach seiner ersten Sitzung in der vorigen Woche vertagte sich das neue Parlament für zwei Wochen, um der Regierungsbildung weiter Zeit zu geben. Der Versuch der SF-Vorsitzenden Mary Lou McDonald, eine von ihr präferierte Links-Koalition mit den kleineren Parteien wie den Grünen, Labour, radikalen Linken und unabhängigen Abgeordneten zu bilden, ist mangels Masse schon im Ansatz gescheitert, zumal Labour sich für den Gang in die Opposition entschied.

Eine Verbindung mit der FF erscheint aussichtslos, nachdem ihr Vorsitzender Micheál Martin in der ersten Parlamentssitzung schwere Angriffe gegen die SF wegen ihrer Vergangenheit und ihrer umstrittenen politischen Kultur gefahren hat.

Die wahrscheinlichste Option ist die einer großen Koalition aus FF und der FG unter Einschluß der Grünen, die ihre Stimmen teuer verkaufen dürften. Martins Angriffe gegen die SF könnten aus dem strategischen Kalkül heraus erfolgt sein, dieser in FF und in FG ungeliebten Variante den Boden zu bereiten, die in der irischen Geschichte ein neues Experiment wäre. Ihn begünstigte zusätzlich die Stellungnahme des irischen Polizeichefs, wonach die SF nach wie vor vom Führungsgremium der IRA überwacht werde. McDonald hingegen wies dies zurück; die IRA sei „von der Bühne abgetreten“.

Für diese Woche sind erste Sondierungsgespräche zwischen Martin und dem amtierenden Ministerpräsidenten Leo Varadkar (FG) angesetzt.

Wahlgeschenke jetzt – die Rechnung kommt später

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 07/20 / 07. Februar 2020

Wahlgeschenke jetzt – die Rechnung kommt später
Irland: Bei den kommenden Parlamentswahlen deutet sich ein Machtwechsel an / Linksnationalisten auf dem Vormarsch
Daniel Körtel

Kaum war nach den britischen Parlamentswahlen im vergangenen Dezember der Brexit fest terminiert und in der britischen Provinz Nordirland eine neue Regionalregierung installiert, kam auch Bewegung in die irische Innenpolitik.

Der Burgfrieden durch das Kooperationsabkommen der regierenden bürgerlichen Fine Gael (FG; Familie der Iren) mit der nationalkonservativen Fianna Fail (FF; Soldaten des Schicksals) und einer Reihe unabhängiger Abgeordneter, das der irischen Regierung eine stabile Basis in den Brexit-Verhandlungen der EU gab, wurde Mitte Januar nach knapp vier Jahren auf Initiative von Ministerpräsident Leo Varadkar durch Ausrufung von Neuwahlen am kommenden Samstag aufgehoben.

Doch Varadkars Kalkül, die irischen Wähler würden ihm die wirtschaftliche Erholung des Landes und seine beharrliche Verteidigung irischer Interessen in den Brexit-Verhandlungen in bezug auf die bislang offene Grenze mit Nordirland honorieren, scheint nicht aufzugehen.

Erstaunlicherweise war es sein ungeschicktes Handeln auf dem Gebiet der Geschichtspolitik, das ihn erste Sympathiepunkte kostete. Eine für Januar geplante und schließlich bis auf weiteres verschobene Zeremonie zum Gedenken an Polizeibeamte, die im Unabhängigkeitskrieg vor einhundert Jahren im Kampf gegen die irischen Freiheitskämpfer fielen, geriet zum öffentlichen Debakel. Auch sonst hängen die ungelösten Probleme der seit neun Jahren in der Regierungsverantwortung stehenden FG wie Mühlsteine um den Hals.

Die Grünen können auf ein Comeback hoffen

Drogenkriminalität, Rentenentwicklung, aber vor allem die katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen und die besonders im Ballungsraum der irischen Hauptstadt Dublin grassierende Wohnungsnot brennen den Wählern auf den Nägeln.

Die Meinungsumfragen sehen trübe aus für die FG. Sie fällt mit 21 Prozent auf den dritten Platz, während sich mit jeweils 24 Prozent die oppositionelle FF mit der deutlich aufsteigenden linksnationalistischen Sinn Féin (SF; Wir selbst) ein überraschendes Rennen um die vorderste Position liefert.

Ein kleines Comeback gelingt offenbar im Zuge der Klimadebatte den bislang in der Versenkung verschwundenen Grünen, die auf sieben Prozent kommen. Mit fünf Prozent ist Labour nur noch ein Schatten einstiger Größe.

Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob FG oder FF nach der Wahl eine Regierungsbildung aus eigener Kraft gelingen wird, zumal beide kategorisch eine Koalition mit der SF ausgeschlossen haben. Die SF hat aufgrund ihrer Vergangenheit als politischer Arm der Terrororganisation IRA (Irisch-Republikanische Armee) und ihrer ungeklärten Haltung zur Kriminalität den Status eines Parias im irischen Parteiensystem.

Dennoch punktet die SF mit ihrer populären Vorsitzenden Mary Lou MacDonald und einem Programm, das mit üppigen Staatsausgaben und höheren Steuern für die Besserverdiener und Banken wirbt sowie einem Referendum über die Wiedervereinigung mit Nordirland.

Die Konkurrenz versucht ihrerseits mit großzügigen Wahlgeschenken aus milliardenschweren Ausgaben bei gleichzeitigen Steuersenkungen aufzuholen.

Gespannte Unsicherheit

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/19 / 04. Oktober 2019

Gespannte Unsicherheit
Nordirland, der Brexit und die Grenzfrage: Angst vor der Rückkehr der konfessionell-nationalen Gewalt
Daniel Körtel

Die vielleicht kurioseste Blüte, die der anstehende Brexit treibt, findet sich in der nordirischen Kleinstadt Enniskillen, nicht weit entfernt von der Grenze zur Republik Irland. Dort an dem Platz, wo auch das Kriegsdenkmal steht, an dem die IRA 1987 mit elf Toten einen ihrer schwersten Anschläge im Bürgerkrieg verübte, bietet die Fleischerei O’Doherty’s mit dem „Brexit Burger“ eine besondere Delikatesse an.

Die rohe Bulette wird an dem Schaufensteraushang des Geschäftes beworben als „ein Burger, der den Brexit so reflektiert wie er vom allgemeinen Volk gesehen wird“. Er sei „ein verrückter Burger, der aus genauso vielen Zutaten gemacht wird, so wie der Brexit ein verrückt zusammengemixter Prozeß ist“. Man wisse nicht, wie er schmecke, so wie man vom Brexit nicht das Endergebnis kenne: „Einmal gegessen könnte er nicht so schlimm schmecken oder möglicherweise schrecklich, so wie es beim Brexit nicht so schlimm oder möglicherweise schrecklich wird.“

Nordiren stimmten gegen den Brexit

Darauf angesprochen, erklärt die Verkäuferin hinter dem Tresen, daß dieses Produkt bei den Kunden gut ankomme. Niemand wisse, was nach dem 31. Oktober dieses Jahres, dem Datum, an dem der britische Premier Boris Johnson den Brexit durchziehen will, auf das Land zukomme. Vor allem treibe alle die Sorge um die mögliche Einführung einer harten Grenze mit Kontrollen und Schlagbäumen um, was vor allem die Geschäftsbeziehungen zum Süden einbrechen lassen werde. Allerdings sehe sie wiederum keinen Anlaß für Katastrophenszenarien.

Gespannte Unsicherheit und Ratlosigkeit begegnet dem Besucher, wenn er Nordiren nach ihren Erwartungen zum Brexit befragt. Beim Stichwort der harten Grenze ruft ein Museumsführer im grenznahen Armagh sarkastisch die Vergangenheit in Erinnerung: „Soll das so werden wie früher, als die Grenzbeamten von der IRA angegriffen wurden, so daß sie von der Polizei beschützt werden mußten und diese ihrerseits wiederum von der Armee?“

Doch noch ist es nicht soweit. Kein Schild weist darauf hin, wenn man auf der irischen Insel die bislang unsichtbare und reibungslose Grenze zwischen der Republik und der britischen Provinz überschreitet. Erst die sich ändernden Autokennzeichen beziehungsweise die vielfach mit britischen Wimpeln beflaggte Häuser der nordirischen Grenzorte signalisieren, wo man sich gerade befindet. Aber selbst die unterschiedlichen Währungen des Euros und des britischen Pfunds werden in vielen Geschäften wechselseitig akzeptiert.

Die unsichtbare Grenze im gemeinsamen EU-Raum mit Binnenmarkt, Zollunion und grenzüberschreitenden Institutionen ist ein wesentliches mentales Element der Friedensordnung zwischen den nordirischen Konfliktparteien, die sich seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 etabliert hat. Dem irischen Wirtschaftshistoriker Kevin O’Rourke zufolge „war die Eliminierung der Grenzkontrollen entscheidend, welche wiederum es für nordirische Nationalisten leichter machte, eine Lösung zu akzeptieren, in welcher sie noch Einwohner (aber nicht notwendigerweise Bürger) des Vereinigten Königreichs waren.“ Und es ist der EU durchaus als Verdienst anzurechnen, daß sie seit 1973 den damals noch der EG beigetretenen Neumitgliedern Irland und Großbritannien einen Rahmen bot, in dem auf politischer Ebene ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht geknüpft werden konnte, auf dem der spätere Friedensprozeß in Nordirland aufbauen konnte. So ist es kaum verwunderlich, daß in Nordirland im EU-Referendum vom Juni 2016 eine deutliche Mehrheit von 55,8 Prozent für einen Verbleib in der EU gestimmt hat.

Die Gefahr besteht nun, daß mit der Entstehung einer neuen Grenze die Rückkehr der konfessionell-nationalen Gewalt einhergeht. Allerdings erscheint es äußerst unwahrscheinlich, daß diese auf das Niveau früherer unseliger Zeiten steigt.

Ein Indiz hierfür war im August die diesjährige traditionelle Parade der protestantischen Apprentice Boys im nordirischen Grenzort Derry (Londonderry). Die durchaus beeindruckende Anzahl der geradezu bieder auftretenden Spielmannszüge lockte indes nur wenige Zuschauer an.

Auch die auf der Rückseite mancher Hemden aufgedruckte, an Martin Luther angelehnte Parole „Here we stand – We can’t do other“ („Hier stehen wir, wir können nicht anders“) kann ebensowenig wie das kleine Grüppchen nationalistischer Gegendemonstranten darüber hinwegtäuschen, daß an diesem Tag das eigentliche Leben in den beliebten Einkaufszentren der Stadt stattfindet.

Es ist heute kaum zu glauben, daß es vor genau fünfzig Jahren dieser Anlaß war, der den Ausbruch der „Troubles“, den fast 30jährigen Bürgerkrieg herbeiführte, als zwischen 15.000 Apprentice Boys und den Bewohnern der katholischen Siedlung Bogside die Gewalt explodierte.

Dennoch bereitet die wachsende Sympathie für die paramilitärischen Dissidentengruppen Sorge, die keine Schwierigkeiten haben, unter der sozial deprivierten Jugend Nachwuchs zu rekrutieren. Dem entgegen kämpft der reformierte Polizeidienst PSNI um das Vertrauen der katholischen Bevölkerungsgruppe, die sich gerade in den vielfach von Mauern getrennten Konfliktzonen zwischen den Konfessionen bei Problemen mit Kriminellen oft an die Paramilitärs wendet, die in Selbstjustiz zur Problemlösung nach wie vor brutale Praktiken wie Knieschüsse anwenden. Auch ist unter Katholiken die Überzeugung weit verbreitet, daß Premier Johnson entgegen seinen Versprechungen eine harte Grenze einführen wird.

Irland will Grenze offenhalten

In den Brexit-Verhandlungen ist die Grenzfrage nach wie vor ungeklärt und von entscheidender Bedeutung für den Abschluß eines Brexit-Abkommens. Als vorläufiger Entwurf gilt die Backstop-Regelung, wonach Großbritannien auch nach dem Austritt aus der EU über einen bestimmten Stichtag hinaus weiterhin Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion bliebe, falls bis dahin keine anderweitige Regelung getroffen werde. Somit wäre eine harte Grenze vorläufig überflüssig.

Dieser Vorschlag wird jedoch von britischer Seite vehement abgelehnt, vor allem befeuert durch die nordirische Protestanten-Partei DUP, den Koalitionspartner der regierendenden Tories. Bislang gelang es London nicht, in dieser Frage die Phalanx der EU-Mitgliedsstaaten aufzubrechen, die fest hinter Irlands Forderung nach einer über den Brexit hinaus soften Grenze stehen.

Unterdessen hat am vergangenen Sonntag die Vorsitzende der DUP, Arlene Foster, jedem Kompromiß, der Nordirland in irgendeiner Weise aus der Zollunion mit Großbritannien herauslöst, eine Absage erteilt. Sie sei zwar offen für einen zeitlich beschränkten Backstop, aber Irlands Ministerpräsident Leo Varadkar habe diese Möglichkeit schon ausgeschlagen. Die britische Seite, deren Alternativvorschläge für Ende dieser Woche erwartet werden, bekräftigte erneut, daß sie den Backstop als solches vom Tisch haben wolle.

Londons Brexit-Unterhändler Stephen Barclay beharrt weiterhin auf einer Verschiebung der Klärung der Grenzfrage bis zum Ende der Übergangsphase für einen geregelten Brexit. Doch noch ist offen, ob aus dieser Sackgasse heraus bis Ende Oktober überhaupt ein Abkommen ausgehandelt werden kann und so doch ein harter Brexit eintritt. In diesem Fall warnte Barclay, daß Großbritannien nicht alleine darunter leiden werde.

Keine Stimme für die ungeborenen Kinder

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Keine Stimme für die ungeborenen Kinder
Nordirland: Durch die Hintertür versucht das britische Parlament in Nordirland ein liberales Abtreibungsrecht durchzusetzen
Daniel Körtel

Nach dem überwältigenden Votum der Iren in dem Referendum vom Mai 2018 zugunsten einer Abschaffung des Abtreibungsverbotes machten Pro Choice-Aktivisten klar, daß sie diesen Sieg nur als eine Zwischenstation ansahen auf dem Weg zu einer Freigabe der Abtreibung auf der gesamten Insel. Also auch in der britischen Provinz Nordirland, wo abgetrennt von den liberalen Regelungen im übrigen Königreich, ein rigides Abtreibungsverbot besteht, das bis in die viktorianische Ära zurückreicht.

Demnach kann eine Schwangere nur dann eine Abtreibung ihres ungeborenen Kindes durchführen, wenn sie durch die Schwangerschaft ihr Leben riskiert oder ihr dadurch langfristige oder dauerhafte geistige und körperliche Schäden drohen. Nicht gestattet ist Abtreibung im Falle von Vergewaltigung, Inzest oder fetalen Mißbildungen.

Vermutlich schneller als erwartet stehen die Abtreibungsbefürworter auch in Nordirland kurz vor ihrem Sieg. Kurioserweise ist es die politische Sackgasse, in die sich die nordirischen Parteien seit der Regionalwahl vom März 2017 verrannt haben. Auch mehr als zwei Jahre später konnte die gegenseitige Blockade der beiden größten Parteien, der irisch-nationalistischen Sinn Fein und der pro-britischen DUP (Democratic Unionist Party) nicht behoben werden, um so eine gemäß den Regelungen des Karfreitagsabkommens von 1998 entsprechende Allparteienregierung einzusetzen.

Im Juli passierte ein Gesetz das Parlament in London, das der britischen Regierung die Pflicht auferlegt, Regelungen für Nordirland zu treffen hinsichtlich der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und einer Liberalisierung der Abtreibung. Dieses Gesetz tritt in Kraft, wenn das nordirische Parlament und die Allparteienregierung nicht bis zum 21. Oktober wiederhergestellt sind.

Damit wäre die Klärung einer komplexen Frage auf Leben und Tod außerhalb der Souveränität der nordirischen Regionalversammlung gestellt. Die zuletzt amtierende Ministerpräsidentin Nordirlands, Arlene Foster, nannte das Gesetz „heimtückisch“ und bekräftigte die ablehnende Haltung ihrer sozialkonservativen DUP. Sie fürchtet zusammen mit Lebensrechtlern, daß sogar eine Fristenregelung bis zur 28. Schwangerschaftswoche eingeführt werden könnte. Dies lehnt die linksgerichtete Sinn Fein jedoch ab.

Obgleich Umfragen nahelegen, daß eine Mehrheit der Nordiren eine Lockerung des strengen Abtreibungsgesetzes befürwortet, versammelten sich am vergangenen Freitagabend Tausende Abtreibungsgegner vor dem nordirischen Parlamentssitz. Bewußt in dunkler Kleidung erhoben sie die leuchtenden Taschenlampen ihrer Smartphones zum Protest: „Unsere Stille spricht Bände. Wir werden nicht gefragt, und die ungeborenen Kinder haben keine Stimme.“

Der Beginn eines dreißigjährigen Bürgerkriegs

© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG  www.jungefreiheit.de 34/19 / 16. August 2019

Der Beginn eines dreißigjährigen Bürgerkriegs
Mit der „Schlacht um die Bogside“ 1969 erreichte der Konflikt von Protestanten und Katholiken in Nordirland die Ebene der Gewalt
Daniel Körtel

Der Tod der jungen Journalistin Lyra McKee während Ausschreitungen in Londonderry im vergangenen April rief für einen Augenblick die Ungeister Nordirlands, dem „Kosovo Großbritanniens“, in Erinnerung. Kurz bevor sie die Kugel eines mutmaßlichen Schützen der republikanischen Dissidentengruppe New IRA traf, twitterte sie über die Lage vor Ort: „Derry tonight. Absolute madness.“

Der tragische Tod McKees geschah am gleichen Ort, an dem sich vor fünfzig Jahren die konfessionell-nationalen Gegensätze zwischen pro-irischen Katholiken und den loyal zur Union mit Großbritannien stehenden Protestanten zu einem explosiven Gewaltausbruch verdichteten.

Die Vorgeschichte zu dem Drama ist geradezu beispielhaft für ein oft wiederkehrendes Muster in der Geschichte, wo Reformer in bester Absicht verkrustete Verhältnisse aufzubrechen versuchten und dabei eine Dynamik in Gang setzten, die sie und das System, das sie zu erhalten trachteten, am Ende hinwegfegte.

Vermehrte Signale für eine Tauwetterperiode

1963 in das Amt des Premierministers gekommen, wagte der Unionist Terence O’Neill eine vorsichtige Öffnung gegenüber der benachteiligten katholischen Minderheit. O’Neill erkannte, daß eine ökonomische Modernisierung des protestantisch dominierten Landes, dessen Werften- und Textilindustrien im Niedergang begriffen waren, nicht ohne die gleichberechtigte Teilhabe der Katholiken zu erreichen war. O’Neill verband mit seinem Kurs die Hoffnung, mit einer Verbesserung ihrer Lage die Loyalität der Katholiken für die Union mit Großbritannien gewinnen zu können.

O’Neills Pläne fügten sich perfekt in den Zeitgeist der sechziger Jahre ein, ein Jahrzehnt, das an seinem Beginn erfüllt war vom Fortschrittsoptimismus der technischen Machbarkeit und politisch-gesellschaftlichem Aufbruch. Von den USA wirkte die Bürgerrechtsbewegung auf viele inspirierend. Zu den als spießig und als überkommen verworfenen Werten und Traditionen ihrer Eltern etablierten sich in den westlichen Staaten alternative Gegenkulturen. Und selbst die katholische Kirche wagte mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Weg in eine neue Moderne. Doch von all den Hoffnungen blieb am Ende des Jahrzehnts nicht mehr viel übrig. So auch in Nordirland.

Bereits die Einladung an seinen Amtskollegen aus der Republik Irland, Sean Lemass, zu einem Besuch in Nord-irland lieferte 1965 ein spektakuläres Signal für die Tauwetterperiode, die O’Neill gegenüber der irisch-katholischen Minderheit einleitete. Dennoch unterblieben strukturelle und politische Reformen. Katholiken sahen sich weiterhin bei der Vergabe kommunaler Wohnungen benachteiligt, bei Wahlen durch den Zuschnitt der Wahlkreise und dem Zensuswahlrecht sowie durch den Special Power Act, der der Regierung besondere Vollmachten zur Durchsetzung von Recht und Ordnung gab.

Doch so konnte O’Neill die Erwartungen der Katholiken nicht erfüllen. Auf der anderen Seite überforderte O’Neill die Protestanten, die um den Status ihrer Provinz fürchteten. Besonders der rabiate Protestanten-Prediger Ian Paisley trieb mit seiner scharfen Rhetorik den Premier vor sich her.

Als katholische Bürgerrechtler am 5. Oktober 1968 einen Protestmarsch nach Londonderry organisierten, kam es zum ersten ernsthaften Zusammenstoß mit der Staatsmacht. Beamte des Polizeidienstes RUC schlugen die Demonstranten mit ihren Knüppeln nieder. Die mediale Wirkung des vor laufenden Kameras vollzogenen Einsatzes war für die nordirische Regierung verheerend und für die Bürgerrechtsbewegung ein gewaltiger Propagandasieg, der ihr weiteren Auftrieb gab. Auf steigenden Druck aus London hin, wo der britische Labour-Premier Harold Wilson mit der Sache der Katholiken sympathisierte, entschloß sich O’Neill zu politischen Reformen, die aber noch zu entfernt von britischen Standards waren – zu spät und zu kurz gegriffen, um noch Wirkung zu entfalten.

Gegenseitige Provokationen durch Protestmärsche

In einer dramatischen Rede warnte O’Neill, daß das Land davor stehe, ins Chaos zu versinken. Sollte es der Regierung nicht gelingen, die Probleme in den Griff zu bekommen, drohe die Gefahr, daß London über die Köpfe der Nordiren hinweg entscheide. Die öffentliche Unterstützung nach der Rede war groß, doch die für Februar 1969 anberaumten Neuwahlen zeigten eine innerparteiliche Zersplitterung von O’Neills Unionisten in Anhänger und Gegner seines Kurses. Eine Reihe von Bombenanschlägen auf öffentliche Einrichtungen und Gebäude, die anfangs der Irisch-Republikanischen Armee IRA zugeschrieben wurden, besiegelten das Ende des Premiers, der von seinem Amt zurücktrat. Später stellte sich die Urheberschaft der Protestanten-Miliz UVF heraus, die damit die Regierung zu destabilisieren suchte.

Zum Wendepunkt wurde der Sommer 1969, wenn durch die protestantische Paradesaison traditionell die politische Temperatur Nordirlands am höchsten steigt. Der Marsch von 15.000 Angehörigen der protestantischen Apprentice Boys am 12. August durch Londonderry führte zur Explosion der offenbar lange aufgestauten Gewalt. Durch Steinwürfe aus der katholischen Enklave Bogside provoziert, versuchte die RUC, gefolgt vom protestantischen Mob, die mit Barrikaden gesicherte Bogside zu stürmen. Ihre Bewohner waren nicht unvorbereitet und empfingen die unter CS-Gas anrückenden Beamten mit Wurfgeschossen aus Steinen und Benzinbomben. „The Battle of the Bogside“ – die Schlacht um die Bogside – war in vollem Gange.

Die RUC und die den Katholiken besonders verhaßte Sondereinsatzgruppe der B-Specials gerieten rasch an ihre Grenzen. Bürgerrechtler organisierten zur Entlastung an anderen Stellen Nordirlands Aufruhr. So auch in der Provinzhauptstadt Belfast, wo nebeneinander in dem katholischen Viertel Falls und dem protestantischen Shankill ein ohnehin konfliktträchtiges gemischt-konfessionelles Siedlungsmuster bestand. Als Brandbeschleuniger wirkte ein Fernsehauftritt des irischen Premiers Jack Lynch, der unter dem Eindruck der Ereignisse als einzige Lösung der Krise die Wiedervereinigung der Insel ansah, was Protestanten als Provokation auffassen mußten, Katholiken hingegen als Ermutigung.

Nach zwei Tagen Straßenschlachten und brennender Häuser rief O’Neills Nachfolger James Chichester-Clark London um Hilfe, das die britische Armee entsandte. Unter dem Jubel der protestantischen Bevölkerung zogen die Soldaten in die Konfliktgebiete ein und beendeten den Aufruhr. Die schreckliche Bilanz: Mindestens acht Tote, über 700 Verletzte, davon über 150 durch Schußwaffen. 170 Häuser wurden niedergebrannt, 1.800 Familien vertrieben. O’Neills Befürchtungen über die Zukunft eines Nordirlands der gewalttätigen Konflikte wurden Wirklichkeit. Der Bürgerkrieg hatte begonnen. Er sollte bis zu einem formellen Abschluß mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 noch fast dreißig Jahre dauern und etwa 3.500 Menschen das Leben kosten.

Nordirland-Konflikt

1919–1921

Irischer Unabhängigkeitskrieg. Er endet mit dem Anglo-Irischen Vertrag, der die Teilung des Landes in einen Freistaat, den Vorläufer der heutigen Republik Irland, und Nordirland vorsieht.

1922–1923

Irischer Bürgerkrieg zwischen Befürwortern und Gegnern des Vertrages

  1. Oktober 1968

Die britische Polizei in Nordirland, die Royal Ulster Constabulary (RUC), knüppelt Demonstranten eines zuvor verbotenen Protestmarschs katholischer Bürgerrechtler nieder.

  1. August 1969

Protestanten stürmen in Derry den katholischen Stadtteil Bogside. Die Straßenschlachten mit den Apprentice Boys of Derry, einer protestantischen Bruderschaft, und der nordirischen Polizei dauern zwei Tage.

1969–1998

Hochphase des Nordirlandskonflikts bis zum Waffenstillstand im sogenannten Karfreitagsabkommen.

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